Die Schweizer Museumszeitschrift

Museumszeitschrift Nr. 22

Die Schweizer Museen verfolgen die aktuelle Kulturpolitik mit besonderem Interesse: Zum einen erwarten sie die Kulturbotschaft 2025–2028, zum anderen sind gleich zwei Motionen rund um das Thema Provenienz in Arbeit. Aus diesem Anlass haben wir uns mit Direktorin des Bundesamtes für Kultur (BAK) Carine Bachmann unterhalten. Wie üblich findet sich in der Herbstausgabe ein Beitrag zum diesjährigen Jahreskongress und die Chronik. Die Bilderstrecke entführt in die Welt der Mineralien und den Blick über die Grenzen werfen wir nach Rotterdam, wo das Museum Boijmans Van Beuningen vor bald zwei Jahren es das erste öffentliche Schaulager der Welt eröffnete.

Museumszeitschrift Nr. 22

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Die Schweizer Museumszeitschrift ist das Magazin für die Mitglieder von VMS und ICOM Schweiz. Sie informiert über die Aktivitäten der Verbände und die aktuelle Kulturpolitik, stellt ausgewählte Fachliteratur vor und wirft in Bildstrecken einen Blick hinter die Kulissen der Museen in der Schweiz. Die Zeitschrift erscheint zweimal jährlich in einer mehrsprachigen Ausgabe. Die wichtigsten Artikel sind in ihren Übersetzungen auf museums.ch verfügbar.

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Übersetzungen

Ohne Scheuklappen

«Tabus? Sensible Themen im Museum» lautete der Titel der diesjährigen Tagung von VMS und ICOM Schweiz. Die Auseinandersetzung mit Themen wie Rassismus, Kolonialismus, sexuelle Identität, Würde oder Religion wird oft als Provokation wahrgenommen. Wie behandeln Museen heikle Themen und Exponate? Wie gelingt es ihnen, die eigene Tätigkeit aus der Perspektive heutiger Fragestellungen zu reflektieren, den gesellschaftlichen Diskurs zu begleiten und mit neuen Impulsen weiterzubringen? Inspirierende Referate und Diskussionen zeigten eine beeindruckende Fülle von Ideen auf.

«Wir brauchen Mut, Zeit und Geld, um Konflikte auszutragen», hielten die Teilnehmenden der ersten Podiumsdiskussion gleich am Anfang der Jahrestagung 2023 fest. Denn dass die Museen von reinen Sammlungs-, Forschungs- und Vermittlungsinstitutionen zunehmend auch zu Orten gesellschaftlicher Auseinandersetzungen werden, stand ausser Zweifel. Diese Entwicklung ist durchaus erwünscht: Der Strategieplan 2022–2028 von ICOM International ermutigt die Museen dazu, gesellschaftliche Veränderungen zu spiegeln, aber auch selbst anzustossen und weiterzutragen. Doch Transformationsprozesse sind meist unbequem. Sie bedingen eine Auseinandersetzung mit Themen, die bisher nicht ohne Grund ausgeblendet wurden, und provozieren teilweise heftige Reaktionen.

Ein bisher weitgehend tabuisiertes Thema ist beispielsweise die kolonialistische Vergangenheit vieler Gesellschaften des globalen Nordens – und ihrer Museen. Mehrere Referate drehten sich denn auch um die Strategien, wie Institutionen ihre Sammlungen unter diesem Aspekt neu betrachten, die unklare Herkunft von einzelnen Exponaten zu klären versuchen, ihre Datenbanken ergänzen, ihre eigene Geschichte reflektieren und die Erkenntnisse wiederum in Ausstellungen thematisieren. In immer mehr Museen führt die Frage nach einer allfälligen Restitution von Sammlungsbeständen zu rechtlichen, ethischen und auch ganz praktischen Abwägungen.

Die Referate und Diskussionen zeigten, dass tabuisierte Themen in praktisch jedem Lebensbereich zu finden sind: von der Sexualität mit ihren vielfältigen Manifestationen bis hin zum Tod und zur Frage, unter welchen Umständen das Ausstellen menschlicher Überreste legitim ist. Wie gehen Museen mit solchen Inhalten um? Wie schaffen sie es, sich als «Kontaktzone, nicht Konfliktfeld» zu positionieren, wie es ein Referent formulierte? Sind sie darauf vorbereitet, die eigene Tätigkeit aus der Perspektive aktueller gesellschaftlicher Fragen kritisch zu beleuchten, heikle Themen diskursiv zu bearbeiten und die Reaktionen des Publikums produktiv einzubinden? Welche neuen Kompetenzen braucht es, um einen offenen, inklusiven sozio-politischen Diskurs im Museum nicht nur zuzulassen, sondern auch zu fördern?

Allgemeingültige Antworten fanden sich keine, was angesichts der Bandbreite der vorgestellten Ausstellungsprojekte auch nicht erstaunt – Eishockey und Kühe, Masken und Federmäntel, Kunstschätze und landwirtschaftliches Gerät, Mumien und Tierpräparate. Auch die Rezeptionserfahrungen waren sehr unterschiedlich: Während die Ausstellung «Queer» dem Naturhistorischen Museum Bern rekordhohe Besuchszahlen und eine Auszeichnung bescherte, sind viele Institutionen mit der Schwierigkeit konfrontiert, die Finanzierung von Ausstellungen zu sensiblen Themen zu sichern.

Autorin: Judit Solt

Tabus verschwinden nicht

Das ungeschriebene Regelwerk zum Verhalten und Sprechen in einer Gesellschaft ist dem Zeitgeist unterworfen. Deshalb werden sich Museen auch in Zukunft mit Tabus beschäftigen müssen.

Immer wieder geraten Museen oder Ausstellungen in die Schlagzeilen, wenn es um «Tabus» geht. Die Rede ist in diesem Zusammenhang meist von «Tabubrüchen» oder «Enttabuisierung». Das bedeutet, dass Kunstschaffende, Museen oder Kunsteinrichtungen sich nicht an gesellschaftliche Konventionen halten. Kurz gesagt: «Das tut man nicht, das gehört sich nicht, das sagt man nicht!» In der Regel geht es um Themen, Objekte oder Auffassungen, die im bisherigen Kunstbetrieb nicht thematisiert wurden, weil ein unausgesprochener Konsens dies untersagte. Dabei werden Tabubrüche meist bewusst provoziert.

Wie so etwas funktionieren kann, hat in diesem Sommer das Literaturmuseum Strauhof in Zürich dokumentiert. Dort wurden Zeichnungen der schwedischen Comic-Künstlerin Liv Strömquist gezeigt, die 2017 in Stockholm einen Skandal provozierten. Plakate, die in der Metro ausgestellt waren, zeigten Eiskunstläuferinnen mit blutiger Unterwäsche. Strömquists Installation «The Night Garden» brachte einige Politiker dazu, solche «Menstruationskunst» im öffentlichen Raum verbieten zu wollen. Die Künstlerin verteidigte sich mit dem Hinweis, bewusst das «Tabu Menstruation» knacken zu wollen. Es dürfe weder Scham noch Verlegenheit auslösen, dass Menstruationsblut existiere. Die Verkehrsbetriebe waren auf ihrer Seite – die Bilder hingen während zwei Jahren in der Metrostation.

Sexualität und Tod stehen in Sachen Tabuisierung an oberster Stelle, nur wenige andere Themen treffen Moralvorstellungen und Sitten einer Gesellschaft derart im Kern. Tabus gibt es selbstverständlich nicht nur in der Kunstwelt, sondern auch im Alltag des gesellschaftlichen Zusammenlebens. So ist es beispielsweise in der Schweiz ein Tabu, Freund:innen oder Kolleg:innen nach Vermögensverhältnissen und Lohn zu fragen. Ein Picknick in der Kirche ist genauso tabu wie über den Friedhof zu joggen. Geradezu durchtränkt von Tabus ist die Gesellschaft generell bei Fragen rund um Alter, Krankheiten oder Behinderungen. Das ist keineswegs nur negativ zu werten, denn die meisten Tabus sollen dazu beitragen, Personen zu respektieren und die Privatsphäre von Mitmenschen zu schützen.

Tabu als «heilige Scheu»

Doch woher stammt das Wort «tabu»? Der Begriff hat seine Ursprünge in Polynesien, erklärte Bruno Brulon Soares von der Universität St. Andrews bei seinem Vortrag anlässlich des Jahreskongresses des Schweizerischen Museumsverbandes im August 2023 in Bellinzona zum Thema «Tabus? Sensible Themen im Museum». Der englische Forscher und Seereisende James Cook soll das Wort Ende des 18. Jahrhunderts von seinen Entdeckungsreisen nach Europa mitgebracht haben. Der Begriff existiert sowohl als Adjektiv («etwas ist tabu») als auch als Substantiv («etwas ist ein Tabu»). Gemeint ist damit ein Zustand der «Unverletzlichkeit», «Heiligkeit» und «Unberührbarkeit»: Tabuisierte Dinge – so die religiöse Vorstellung der Polynesier – müssten streng gemieden werden, da sie gefährliche Kräfte besässen. Am besten lässt sich ein Tabu somit als «heilige Scheu» deuten. Das Tabu ist ein ungeschriebenes Gesetz, vermutlich älter als jede Religion.

Ist die Etymologie des Wortes zwar eindeutig, so wird es bei der Definition eines Tabus schon schwieriger. Vor diesem Problem stand bereits Sigmund Freud, der sich in seiner Schrift «Totem und Tabu» aus dem Jahr 1913 unter anderem mit einem der ältesten Tabus beschäftigte, dem Inzestverbot. Freud hielt damals fest, «dass Tabubeschränkungen etwas anderes sind als die religiösen oder moralischen Verbote. Sie werden nicht auf das Gebot eines Gottes zurückgeführt, sondern verbieten sich eigentlich von selbst.»

Verstoss gegen Wertvorstellungen

Heute lässt sich sagen: Tabus repräsentieren traditionellerweise Verstösse gegen gesellschaftliche Wert- und Normvorstellungen. Jeder Kulturkreis hat seine eigenen Regeln für das gesellschaftliche Zusammenleben. Verhaltensweisen, die innerhalb einer Personengruppe einen gewohnten Kommunikationsablauf garantieren, können in einer anderen als Regelverletzung empfunden werden. Sind Verhaltensnormen uneindeutig, kann dies sowohl eine grössere Handlungsfreiheit bedeuten als auch dazu führen, dass neue Tabus entstehen. Die Befindlichkeit einer Gesellschaft, ihr Umgang mit Normen und Freiheiten lässt sich auch an ihren Tabus ablesen. Je mehr Tabus eine Gesellschaft kennzeichnen, desto rigider und moralisch aufgeladener sind ihre Regeln des Zusammenlebens.

In zunehmend säkularisierten Gesellschaften wie der Schweiz, wo kirchliche Moralvorstellungen an Einfluss verlieren, ist damit zu rechnen, dass es immer weniger Tabubrüche gibt. Tatsächlich ist beispielsweise die Darstellung von Homosexualität oder Nacktheit in Filmen inzwischen an der Tagesordnung. Niemand regt sich darüber auf. Die 1970er-Jahre hingegen waren noch ein Jahrzehnt, das stark von sozialen und visuellen Tabus geprägt war. Manche Tabus haben sich fast in ihr Gegenteil verkehrt. Und während Homosexualität lange tabuisiert war, ist es heute die Homophobie, die als Problem erkannt wird.

Es ist aber keineswegs so, dass Tabus verschwunden wären. Denn es gibt nach wie vor viele Themen, die sehr intime und sensible Bereiche des Menschseins berühren. Die Freiburger Künstlerin Anne Vonlanthen gestaltete beispielsweise Tierschädel, die sie aus Gegenständen von Verstorbenen herstellte und auf Gipskopfabdrücken von lebenden Menschen präsentierte. Einen Schädel hat Vonlanthen aus Infusionsschläuchen und Spritzen geschaffen, mit denen ihr erkrankter und verstorbener Mann behandelt worden war. Das wirft Fragen auf. Die Künstlerin wollte wissen, was Hinterbliebene mit den Dingen von Toten machen. «Der Tod ist in unserer Gesellschaft immer noch ein grosses Tabu», sagt Vonlanthen. So gibt es bis heute eine Diskussion darüber, ob es statthaft ist, einbalsamierte Leichen zu zeigen.

Nicht alle Tabus sind schlecht

Trotz aller Liberalisierung und Freizügigkeit sorgt gerade das Thema Sexualität nach wie vor für Skandale, weil Tabus berührt werden. Der Historiker und Religionswissenschaftler Martin Bürgin, der eine Filmreihe am Basler Luststreifen Film Festival betreute, sagte treffend: «Ich glaube nicht, dass ein Tabu, das einmal gebrochen wurde, für immer verschwunden ist.»

Selbst wenn gewisse Tabus verschwinden, werden andere an ihrer Stelle auftauchen. Die Gesellschaft ist einem steten Wertewandel unterworfen. Deshalb werden Museen auch in Zukunft weiterhin Tabus beachten und hinterfragen oder an Museumstagen selbst zum Thema machen. Die Frage beispielsweise, ob man menschliche Überreste oder Schrumpfköpfe öffentlich zeigen soll, lässt sich kaum definitiv beantworten. Tanjev Schultz, Politik- und Kommunikationswissenschaftler und Professor am Journalistischen Seminar der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, schrieb in der Süddeutschen Zeitung: «Auch in offenen Gesellschaften gibt es Tabus, und nicht alle sind schlecht.»

Autor: Gerhard Lob

«Wir wollen den Kultursektor stärken»

Carine Bachmann im Gespräch: Welches sind die Schwerpunkte der Kulturbotschaft 2025–2028? Was hat es mit der nationalen Kulturerbestrategie auf sich, und welches Verhältnis pflegt die Direktorin des BAK zur Schweizer Museumslandschaft? Andrea Kauer Loens, Vizepräsidentin VMS, und Tobia Bezzola, Präsident ICOM Schweiz, trafen Carine Bachmann im Juli 2023, rund eineinhalb Jahre nach Amtsantritt, in Bern zum Austausch. Moderiert und verschriftlicht wurde das Gespräch von Katharina Flieger.

Katharina Flieger: Frau Bachmann, Sie haben Sozialpsychologie, Filmwissenschaft und Völkerrecht studiert, der Weg zu Ihrer heutigen Tätigkeit hat Sie über verschiedenste berufliche Stationen geführt. Inwiefern hat sich durch Ihren Werdegang Ihr Blick auf die Schweizer Museumslandschaft verändert?

Carine Bachmann: Ich habe mich stets für Fragen des Zusammenspiels zwischen Individuen und Gesellschaft interessiert, wie gesellschaftliche Diskurse individuelle Identitäten prägen. Mein erstes Arbeitsfeld lag im Filmbereich, wo ich für ein Experimentalfilmfestival gearbeitet habe. Dort beschäftigte ich mich unter anderem mit Fragen, wie in Dokumentarfilmen der Effekt der Realität hergestellt wird.

Danach habe ich rund zehn Jahre in der Entwicklungszusammenarbeit und Konfliktprävention im Kaukasus und in Zentralasien gearbeitet. Zu einer Zeit, in der die Sowjetunion zusammenbrach und neue Nationalstaaten entstanden, lag mein Fokus auf der Sprach- und Minderheitenpolitik. Die zentrale Frage lautete in dem Kontext: Welche Politiken kann ein Staat einführen, um die kulturelle Vielfalt zu stärken? Und wie kann diese Stärkung der kulturellen Vielfalt zu einem Fundament des sozialen Friedens und nicht zu Konflikten und Krieg führen? Dies beschäftigt mich bis heute, eigentlich arbeiten wir beim BAK an ebendiesen Fragen.

In den darauffolgenden zwölf Jahren habe ich für die Stadt Genf gearbeitet, als Direktorin des Departements für Kultur und digitale Transformation. Dort war der Bezug zu den Museen konkret: Ich war für die fünf städtischen Museen verantwortlich und initiierte einen partizipativen Prozess, um die Genfer Museumslandschaft zu stärken und besser zu positionieren. Der Prozess resultierte in der Gründung der Genfer Museumskonferenz, einer Strategie für die Genfer Museumspolitik und gemeinsamen Aktionen. Mein Bezug zur Museumslandschaft wandelte sich also von einem theoretischen Verständnis zu einer sehr konkreten Auseinandersetzung mit Aspekten wie Publikumsstatistiken, kultureller Teilhabe oder etwa der Frage, wie provokativ oder unterhaltend ein Museum sein darf – eine unheimlich spannende Erfahrung.

KF: Sie gelangten also von einem theoretischen, auch philosophischen Verständnis von Museen zur praktischen Auseinandersetzung mit den Institutionen in Genf. Beim BAK bewegen Sie sich in einem anderen Rahmen, weiter weg von der konkreten Arbeit. Könnten Sie kurz beschreiben, wie sich die Museen beim BAK eingliedern?

CB: Die Arbeit des BAK besteht einerseits darin, die Bundessammlungen zu pflegen und attraktiv zu vermitteln. Andererseits ist es unsere Aufgabe, Museen mit Sammlungen von gesamtschweizerischer Bedeutung und Netzwerke des Kulturerbes finanziell zu unterstützen. Darüber hinaus ist das BAK mit dem Vollzug des Bundesgesetzes über den internationalen Kulturgütertransfer betraut. Dieses Gesetz setzt die UNESCO-Konvention von 1970 um und regelt die Einfuhr von Kulturgut in die Schweiz, seine Ausfuhr und Rückführung aus der Schweiz sowie Massnahmen gegen die rechtswidrige Übereignung. Damit will der Bund einen Beitrag zur Erhaltung des kulturellen Erbes der Menschheit leisten und Diebstahl, Plünderung und illegale Ein- und Ausfuhr von Kulturgut verhindern. Hier sind wir im zwischenstaatlichen Bereich aktiv, sei es im Hinblick auf den Abschluss bilateraler Abkommen zum Kulturgütertransfer oder bei Restitutionen von Kulturgütern, welche in der Schweiz in einem Strafverfahren eingezogen wurden.

Tobia Bezzola: Wie findet in der Praxis die Kommunikation über die verschiedenen Ebenen zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden statt?

CB: Seit 2011 haben wir dafür ein institutionalisiertes Format, den nationalen Kulturdialog. Da kommen der Gemeindeverband, der Städteverband, die Kantone und der Bund auf technischer und politischer Ebene regelmässig zusammen. Verbindliche Entscheide werden da nicht gefällt, sondern Diskussionen geführt, Best Practices ausgetauscht und Empfehlungen abgegeben. Eine Arbeitsgruppe des nationalen Kulturdialogs arbeitet zum Beispiel an der Formulierung einer nationalen, übergeordneten Strategie zur Bewahrung, Entwicklung und Vermittlung unseres Kulturerbes. Initiiert wurden diese Arbeiten durch eine Motion der WBK (Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur) des Ständerates. Das ist eine komplexe und schwierige Aufgabe, aber auch eine hochinteressante. Es scheint mir sinnvoll zu sein, dass sich jede Generation die Frage stellt, was wir in der Schweiz sammeln sollten und wollen und wo die Herausforderungen im Umgang mit unserem Kulturerbe liegen. Die Strategie sollte 2024 vorliegen. Die Umsetzung wird eine breite Abstützung durch die relevanten Partner benötigen und Ressourcenfragen aufwerfen.

Andrea Kauer: Diese nationale Kulturerbestrategie wird in Museumskreisen mit Interesse erwartet, zumal ja auch die Kulturbotschaft mehrfach darauf Bezug nimmt. Darüber hinaus gibt es zum einen die Motion zur Schaffung einer Plattform für Provenienzforschung (Motion WBK-S) und zum anderen die Motion für die Bildung einer Kommission für Provenienz- und Restitutionsfragen (Motion Pult). Gibt es Neuigkeiten zum Stand dieser Vorlagen, die für die Museumswelt sehr wichtig sind?

CB: Bezüglich der Schaffung einer Plattform für Provenienzforschung sind wir an der Arbeit: Erst müssen wir über einen Zusatz im Kulturgütertransfergesetz die nötige Gesetzesgrundlage schaffen, die es uns dann erlaubt, ein solches Vorhaben finanziell zu unterstützen. Die Idee ist nicht, dass der Bund diese Plattform selbst betreibt, sondern dass Externe unterstützt werden.

Die zweite Motion beauftragt den Bundesrat, eine Expertenkommission zu NS-Raubkunst zu schaffen und abzuklären, ob dabei auch Kulturgüter aus anderen Kontexten wie z. B. aus kolonialen Kontexten berücksichtigt werden sollten. Auch dort sind wir auf Kurs und hoffen, dass die Kommission so bald wie möglich die Arbeit aufnehmen kann. Die meisten umliegenden Länder verfügen bereits über vergleichbare Expertenkommissionen. Wir pflegen sehr gute Kontakte zu den entsprechenden Verantwortlichen und konnten mit ihnen die Vor- und Nachteile der wichtigsten Punkte diskutieren. Klar ist: Die Kommission wird den Auftrag haben, nichtbindende Empfehlungen abzugeben. Dabei können nicht nur Empfehlungen zu möglichen Restitutionen abgegeben werden. Restitution ist eine von vielen Optionen in der Suche nach fairen und gerechten Lösungen. Es kommen auch – temporäre oder dauerhafte – Leihgaben in Frage oder die Herstellung von Replikaten der Objekte, die dann im Ursprungsland und in der Schweiz ausgestellt werden. Wie auch Empfehlungen, dass ein Museum die Provenienz des betroffenen Kulturgutes besser dokumentieren und für das Publikum zugänglich machen sollte.

Zurzeit arbeiten wir daran, die noch offenen Fragen abzuklären: Sollen auch Kulturgüter aus kolonialen Kontexten von dieser Kommission behandelt werden und wenn ja – wie Sie wissen, sind das unterschiedliche Kontexte –, was bedeutet dies für die Zusammensetzung und das Funktionieren der Kommission? Die nächste Frage sind die Eintrittsvoraussetzungen: Muss bereits Provenienzforschung durchgeführt worden sein? Muss bereits ein Schlichtungsversuch zwischen dem Museum, der Besitzerschaft und dem Antragsstellenden erfolgt sein? Ich glaube, alle sind sich bewusst: Diese Kommission ist ein Eskalationsinstrument für Fälle, die auf anderem Wege nicht gelöst werden können. Wenn sich keine Lösung abzeichnet, finde ich es gut, dass eine Expertenkommission, der weder Besitzer:innen noch Antragsstellende angehören, den Streitfall untersucht und eine Empfehlung abgeben kann.

AK: Aus Sicht der Museen und des VMS ist es sehr positiv, dass der Bund das Thema der Provenienzforschung auf verschiedenen Ebenen vorantreibt. Während im Bereich der NS-Raubkunst vorwiegend Kunstmuseen betroffen sind, erweitert sich das Feld, wenn wir etwa klassische archäologische Objekte oder solche mit kolonialem Hintergrund anschauen. Das sind Themen, die viele kleine Museen betreffen, und gerade dort steht noch viel Grundlagenarbeit an. Das führt in ein nächstes Handlungsfeld, zu den Arbeitsverhältnissen im Kulturbereich und einer verbesserten sozialen Absicherung: Diese kleinen Museen, die ohnehin mit sehr knappen Mitteln ausgestattet sind und den Alltag nur dank viel Freiwilligenarbeit und Herzblut bewältigen, müssen zuerst in die Lage versetzt werden, Provenienzforschung betreiben zu können.

CB: Ja, das liegt mir sehr am Herzen. Die Provenienzforschung ist eine Aufgabe der Museen, und viele der grossen Museen in der Schweiz haben in den letzten Jahren diesen Bereich professionalisiert und ausgebaut. Bei gewissen kleinen und mittleren Museen sind die finanziellen und personellen Ressourcen nicht da, um diese wichtige Aufgabe zu bewältigen. Gerade diese Museen werden in den nächsten Jahren eine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Unterstützung brauchen. Für die Erarbeitung der dafür nötigen Grundlagen und Instrumente ist die Zusammenarbeit mit dem VMS und anderen Verbänden fundamental.

TB: Die Verbände können den Prozess auch mit Blick auf die Ausbildung unterstützen. Da geht es nicht nur um die akademische Ausbildung, sondern auch um Weiterbildungen. Da gibt es Handlungsbedarf.

CB: Unbedingt. Für die Phase von 2016 bis 2024 standen 5.7 Millionen Franken für Provenienzforschung zur Verfügung. In der neuen Kulturbotschaft haben wir mehr Mittel vorgesehen, die relativ flexibel eingesetzt werden können.

Provenienzforschung ist eine Bereicherung für Museen, ein Beitrag, um durch eine gegenwartsrelevante Auseinandersetzung das Kulturerbe lebendig zu erhalten. Provenienzforschung befähigt, dem Publikum die Geschichte eines Kulturgutes aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen. Dabei ist es wichtig, dass man sich auch der historisch belasteten Vergangenheit stellt.

TB: Wenn Sie jemandem kurz erklären müssten, warum es eine neue Kulturbotschaft braucht und was daran neu ist – was sagen Sie da?

CB: Das übergeordnete Ziel ist, die Kultur in der Schweiz als eigenständigen Wert anzuerkennen und den Kultursektor zu stärken. Noch immer wird Kultur von vielen als «Nebengeschäft» oder «nice to have» angesehen – solange es uns gut geht, leisten wir sie uns, und sonst nicht. Doch wir wollen und müssen den Kultursektor stärken. Während der Pandemie ist das Bewusstsein für die gesellschaftliche Relevanz der Kultur gestiegen; das ist eine Chance. Gleichzeitig hat die Pandemie aber auch die Systemschwächen des Kultursektors hervorgehoben. Die prekären Arbeitsbedingungen von Kulturschaffenden sind zum Beispiel nichts Neues, aber seit der Pandemie sind sie schwarz auf weiss dokumentiert. Auch gewisse Tendenzen wie der Konsum von digitalen Inhalten haben durch die Pandemie eine exponentielle Beschleunigung erfahren. Deshalb haben wir bei der Ausarbeitung der Kulturbotschaft entschieden, unter Einbezug der kulturellen Organisation und der staatlichen Partner eine Auslegeordnung der aktuellen Herausforderungen für die Kultur in der Schweiz vorzunehmen. Dieses Vorgehen ist neu. Aus den Hearings wurden dann sechs Handlungsfelder definiert, und zwar aus einer gesamtschweizerischen Perspektive. Auch das ist neu.

Die Ambition der Kulturbotschaft 2025–2028 ist es, die identifizierten Herausforderungen zielorientiert und pragmatisch anzugehen, natürlich im Rahmen unseres föderalistischen Systems. Für den Bund heisst dies, dass er vor allem subsidiär handelt und sich auf Vorhaben von gesamtschweizerischem Interesse konzentriert. Wir verstehen Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik. Wir sind ein multikulturelles und mehrsprachiges Land mit einer tief verwurzelten Tradition der politischen und sozialen Partizipation. Unsere wichtigste Ressource sind die Menschen … Deshalb verfolgt die Kulturpolitik des Bundes weiterhin die drei langfristigen Wirkungsziele: die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der kulturellen Teilhabe und der Kreation und Innovation.

KF: Herr Bezzola und Frau Kauer, wie schätzen Sie aus Ihren jeweiligen unterschiedlichen Perspektiven die Signalwirkung dieser Kulturbotschaft auf andere Entscheidungsträger:innen und Ebenen der Kulturpolitik ein?

TB: Wichtig ist diesbezüglich die explizit unterstrichene Bedeutung der Provenienzforschung. Oft sind gar nicht die Museen die Eigentümer der Werke, sondern Kantone oder Städte. Künftig soll kein Stadtpräsidium und keine Kantonsregierung mehr sagen können, dass die Frage der Provenienz für sie kein Thema sei, darüber wolle man nicht diskutieren. Auch wenn es kein Gesetz auf Verfassungsebene ist, schaut man auf kommunaler und kantonaler Ebene, was der Bund dazu sagt.

AK: Darüber hinaus hat die Kulturbotschaft Signalwirkung für Stiftungen und nicht zuletzt für die Institutionen in ihrer Positionierung. Sie setzt Schwerpunkte und gibt eine Stossrichtung vor, die sich dann auf alle Ebenen auswirkt.

CB: Die meisten Herausforderungen betreffen alle drei Staatsebenen. Zusammenarbeit und, wenn sinnvoll, auch die Koordination der Massnahmen sind deshalb eine Voraussetzung für eine kohärente und effiziente Kulturpolitik in der Schweiz. Es braucht eine Bündelung der Kräfte!

Unsere finanziellen Mittel sind beschränkt. Eine Herausforderung gibt es unter anderem bei der Unterstützung von Netzwerken. Die Typologie der unterstützten Netzwerke ist relativ disparat und sie werden auch finanziell sehr unterschiedlich unterstützt. Zudem haben wir in diesem Bereich neue Aufgaben, aber nicht mehr Mittel. Wir müssen diesen Bereich konzeptionell überarbeiten, auf der Basis der nationalen Kulturerbestrategie. Die Idee ist nicht, Mittel zu kürzen: Alle Organisationen leisten eine wertvolle Arbeit. Wir möchten idealerweise nicht den gleichen «Kuchen» mit mehr Parteien teilen, sondern den «Kuchen» vergrössern. Die Neukonzeption der Unterstützung der Netzwerke Dritter wird sicherlich eine der wichtigen Baustellen der nächsten Jahre sein. Wir werden die anstehenden Diskussionen mit grösster Sorgfalt angehen und die relevanten Stakeholder einbeziehen.

TB: Würden Sie sich manchmal wünschen, dass der Bund ein ähnliches Netz an Bundesmuseen hätte, wie dies in Frankreich, Spanien etc. der Fall ist und wo die Politik gesamtheitlich koordiniert wird? Bedeutet das Fehlen breiter, nationaler Netze ein Steuerungsdefizit für die Kulturpolitik insgesamt?

CB: Diese Frage stellt sich für mich nicht. Der Föderalismus und die damit einhergehende Kompetenzverteilung haben viele Vorteile, auch kulturpolitisch. In der Schweiz ist Kultur eine Sache von jedem und jeder und nicht nur die einer Elite. Die Frage ist: Wie können wir mit unserer föderalistisch ausgerichteten Kompetenzaufteilung die Kultur in der Schweiz unterstützen und was kann und soll der Bund in einem gesamtschweizerischen Interesse dazu beitragen? Das hat nichts mit Zentralismus zu tun. Ich sehe das Bundesamt für Kultur auch als einen Ermöglicher, Koordinator und manchmal auch Initiator. Nehmen wir als Beispiel die digitale Transformation. Es ist nicht besonders effizient, wenn jedes Museum ein eigenes digitales Langzeitarchiv aufbaut. Da wäre es vermutlich sinnvoller, sich zusammenzusetzen und zu überlegen, wie so ein gemeinsames Bedürfnis, das sehr kosten- und ressourcenintensiv ist, gemeinsam angegangen werden könnte. Solche Diskussionen zu ermöglichen und zu koordinieren kann für mich auch ein Auftrag des Bundes sein.

Autorin: Katharina Flieger

Im gläsernen Maschinenraum

Das Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam hat das erste öffentliche Schaulager der Welt eröffnet. Und das gewährt spektakuläre Einblicke.

Wer hier unten steht, im Erdgeschoss des Depots Boijmans Van Beuningen in Rotterdam, und nach oben guckt, hat das Gefühl, in die Zukunft zu blicken. Gläserne Treppen kreuzen sich in einer Mischung aus Piranesi- und Schloss-Hogwarts-Manier schier endlos steil in die Höhe. Dazwischen gleiten lautlos unterschiedlich grosse transparente Aufzüge nach oben. Ihr Weg führt vorbei an Glasvitrinen, in denen einzelne Objekte scheinbar in der Luft schweben. Mittelalterliche Holzskulpturen, ein blütenförmiges Cocktailkleid in Feuerrot und Pink, knallgelbe Handschuhe in Riesenprankengrösse. Auch die sechs Stockwerke sind transparent, zumindest wirkt das auf den ersten Blick so, derart viele grosse Glasscheiben geben hier Einblicke in die Räume mit den überwiegend unverputzten Betonwänden. Mitten hinein in all die Kunstdepots und Restaurierungswerkstätten, in denen die Schätze dieser Welt lagern, Keramiken aus Asien, Gemälde von Bruegel, Rembrandt, Picasso, Beckmann und van Gogh, eine rot gepunktete Textilarbeit von Yayoi Kusama, eine frühe Skulptur von Christo und Jeanne-Claude, Thonet-Stühle, Alu-Rennrad. Es ist die pure Überwältigung, das absolute Glücksgefühl, ein geradezu rauschhaftes Sehen. Es ist: Kunst.

«Man selbst wird zum Kurator und erzählt sich seine eigene Geschichte», sagt Sjarel Ex dazu. Er ist zusammen mit Ina Klaassen Direktor des Boijmans-Van-Beuningen-Museums in Rotterdam und Chef von diesem neuen Ort, der eigentlich noch einen neuen Namen braucht. Denn «Depot» ist viel zu nüchtern für diese silbern glänzende, fast 40 Meter hohe Teetasse, die im Rotterdamer Museumpark gleich neben dem Klinkerbau des Boijmans-Museums gelandet ist. Die Architektur, gerade das Äussere, mag spektakulär sein. Das Gebäude hat nicht nur einen kleinen Birkenwald auf dem kreisrunden Flachdach, es ist auch mit 1664 gebogenen, reflektierenden Glasscheiben ummantelt und spiegelt auf diese Weise, mal mehr, mal weniger verzerrt, sein Gegenüber. Das löst den heute unvermeidlichen Selfie-Reflex aus – und zwar egal in welcher Altersklasse –, zeigt aber auch, wie sehr die Stadt doch zur Bühne taugt, auf der sie selbst die fröhliche Hauptrolle einnimmt. Allen Totengräber-Rufen in der Pandemie zum Trotz. Doch was noch viel spektakulärer ist als die Architektur, die das Rotterdamer Büro MVRDV geschaffen hat, ist das Innenleben dieses Ortes. Denn es ist das erste komplett öffentliche Kunstdepot dieser Welt. Auf 15 000 Quadratmetern werde hier alle der mehr als 151 000 Objekte, die sich in der Sammlung des Boijmans Van Beuningen befinden, zugänglich gemacht. Und zwar für jeden. Das bedeutet, dass in diesem Depot ein Besucher Einblicke in das erhält, was zwar alle Museen dieser Welt besitzen – mehr oder weniger gut gesicherte und klimatisch perfekt austarierte Lagerräume, Restaurierungswerkstätten, Ateliers, um die Kunst zu pflegen, zu säubern, zu verpacken –, was aber sonst meist im Verborgenen bleibt, weil es früher oft im Keller untergebracht war und heute, mit zunehmenden Sammlungsgrössen der Häuser, gleich in eigene Depotgebäude in der Umgebung verstreut ist. Auch im Boijmans Van Beuningen war das so. Die Sammlung lagerte in mehreren Depots und auch im Keller des Klinkerbaus, was im Jahr 2013 fast zu einer Katastrophe geführt hat, weil die Kellerräume des Museums bei einer Überschwemmung vollliefen und das Wasser offenbar nur wenige Zentimeter unter den Kunstwerken zum Stoppen kam. Damals entstand der dringende und durchaus nachvollziehbare Wunsch nach einem neuen Depot. Dass dieses nun aber derart zugänglich ausgefallen ist und damit zum ersten gläsernen Maschinenraum eines Museums wurde, mit Blick auf sein Innerstes – und nicht zuletzt auf seine Mitarbeiter:innen –, das dürfte auch an einer gewissen Furchtlosigkeit liegen, die den Niederländern offenbar zu eigen ist. Zumindest macht das den Eindruck. Nur ein Beispiel: Das Land mag eine Fahrradnation sein, einen Helm aber tragen die wenigsten. Nicht einmal auf einer Vespa.

Ein neues Leben für die Objekte

«Sicherheit ist wichtig, aber man sammelt keine Kunst, um sie sicher zu machen», sagt Museumsdirektor Ex. «Wir sammeln Gemälde, Skulpturen und Design, um ihnen ein neues Leben zu geben.» Das neue Leben in diesem Depot mag zwar noch etwas ungewohnt sein, auch für die Mitarbeiter:innen, die sich manche reflexhafte Schutzbewegung nicht verkneifen können, wenn Besucher:innen vermeintlich zu nah an ein Werk herankommen – kann ja auch schon mal ein van Gogh sein –, aber Ex zielt auf einen schmerzhaften Punkt vieler Museen: «Wenn wir alles in eine dunkle Kammer stecken, wo keiner mehr reindarf, werden die Dinge in Vergessenheit geraten.» Auch im Boijmans hätten sie in ihrem Computersystem gemerkt, wie viele Stellen es in der Sammlung gebe, wo keinerlei Aufmerksamkeit mehr reinfliesse. Wie auch bei Zehntausenden von Objekten? Verpackt in Holzkisten, Plastikschachteln und Pappkartons. Verstaut in meterhohen Regalen und Schränken. Verschwunden im Koordinatensystem hinter einer sechsstelligen Zahl. Wie etwa Ursula Schultze-Bluhms «Pandora-Box mit Kopf», einem leuchtend bunt bemalten und mit allerhand ausstaffierten Schrank, auf dem der Torso einer nackten Schaufensterpuppe prangt, deren Kopf wiederum mit Pfauenfedern geschmückt ist. Die Assemblage der deutschen Art-Brut-Künstlerin aus dem Jahr 1973 sei eine «wunderbare Entdeckung» gewesen, freut sich die Kuratorin in der Abteilung für Installationen und grössere Objekte, «gefunden» beim Einräumen in das neue Depot, das zur Eröffnung tatsächlich die komplette Sammlung beinhaltet. Denn das benachbarte Museum aus dem Jahr 1935, wo sonst an die 3000 Kunstwerke ausgestellt sind, ist bis 2028 geschlossen, es muss umfassend saniert und erweitert werden.

Im Depot verteilt sich die Sammlung nun auf insgesamt 14 Abteilungen, mit allein fünf unterschiedlichen Klimazonen, in denen die Objekte in schlichte Industrieregale und Hängesysteme einsortiert wurden, abhängig vor allem nach Material und Größe, manchmal auch nach Entstehungszeit und -ort. Ex vergleicht das Ordnungssystem mit dem einer Bibliothek. Wer das Depot in Zukunft besucht, muss eine Tour buchen und wird dann mit einer kleinen Gruppe von maximal 13 Teilnehmer:innen sowie einem Führer und einer Sicherheitskraft eine einzige Abteilung besichtigen. Doch keine Sorge – das Glücksgefühl, der visuelle Rausch setzt auch schon in einer Abteilung, ach was, bereits im Foyer ein. Was aber noch viel wichtiger ist: Ein Besuch in diesem Depot, ein Blick in die Restaurierungswerkstätten, die eher an Hightech-Labore erinnern, macht unmissverständlich klar, was es heute bedeutet, eine Sammlung zu bewahren. Welche Technologien, Maschinen und Ausrüstung nötig sind, um zum Beispiel eine Assemblage aus Holz, Plastik, Metall und Pfauenfedern zu pflegen, aber vor allem auch welche Kenntnisse, Fähigkeiten und Sorgfalt. «Kaum einer weiss, was es braucht, damit ein Gemälde die nächsten 100 Jahre gut übersteht. Das Wissen, wie wir uns um unser Erbe kümmern, ist gering», sagt Boijmans-Direktor Ex. Das Depot ist damit auch der Wunsch, genau das begreifbar zu machen und damit nicht zuletzt nachvollziehbar, warum dieses Unterfangen so kostspielig ist. Und zwar in jedem Museum.

«Wir arbeiten für die Künstler:innen und das Publikum»

Apropos Kosten: 2000 Quadratmeter dieses Depots können von privaten Kunstsammler:innen, egal ob Unternehmen oder Personen, für 400 Euro pro Quadratmeter und Jahr gemietet werden. Manche davon öffnen ihre Türen auch den Besucher:innen. Keine Angst, dass sich die hochkarätige Sammlung des Boijmans dadurch selbst abwertet? Schliesslich werden die Besucher:innen kaum eine Trennlinie ziehen zwischen den unterschiedlichen Sammlungen, die in exakt identisch gestalteten Räumlichkeiten untergebracht sind. «Sie werden alles miteinander vermischen, und das ist okay», sagt Ex. Und er erklärt ähnlich unbesorgt die Bedingungen des kleinen Freeports, den das Boijmans für die privaten Sammler:innen hier geschaffen hat. «All diese Dinge werden bereits getan, nur nicht von einem Museum. Warum nicht? Wir sind unabhängig, nicht kommerziell, und wir arbeiten für die Künstler und das Publikum.» Niederländisch furchtlos eben. Genauso wie Winy Maas, einer der Gründer von MVRDV. Der Architekt erklärt einem seinen Entwurf auf dem Dach des Depots, wo neben dem Wäldchen auch ein Restaurant und ein Veranstaltungsraum untergebracht sind, natürlich ebenfalls gläsern. «Wie kann etwas zu spektakulär sein? Wie sollen wir denn sonst den Änderungen auf der Welt, dem Klimawandel und der Spaltung der Gesellschaft, begegnen?» Man müsse schon ein bisschen frecher sein, so Maas, um zu zeigen, wie die Menschen in Zukunft zusammenleben könnten. Bei einem «Teppich aus lauter Ähnlichkeiten wie in Deutschland» weiss keiner, wohin die Reise geht. Im Depot Boijmans Van Beuningen ist das anders. Die Botschaft ist klar. Die Zukunft gehört der Kunst.

Autorin: Laura Weissmüller

Chronik 2023

Die Rubrik gibt einen umfassenden und vielfältigen Überblick über Neuerungen und Veränderungen in der Schweizer Museumslandschaft.

Never change a running system – in diesem Sinne gilt der Einstiegssfokus in bewährter Manier den Institutionen mit einem 2023er-Jubiläum. Das Würth Haus Rorschach feierte «10 Jahre Kunst, Kultur, Genuss», während sich das Strohmuseum im Park mit «Schweizer Strohmuseum» zum gleichen Jubiläum einen neuen Namen schenkte. Das Aargauer Kunsthaus beging sein doppelt so hohes Jubiläum mit einer Sanierung: Vor 20 Jahren wurde der Erweiterungsbau des Architekturbüros Herzog & de Meuron feierlich eröffnet, im Jubiläumsjahr wurden die Ausstellungsräume saniert und in neues Licht gesetzt, zusätzlich gestalteten Herzog & de Meuron das Foyer neu. Wiederum verdoppelt ist das Jubiläum des Museums Burg Zug: Vom 1. bis zum 3. September wurde der 40. Geburtstag gefeiert. Schon ein Jahrhundert mehr auf dem Buckel hat das Musée Ariana – Schweizerisches Museum für Keramik und Glas: Es beging den 140. Geburtstag neben einem Fest auch mit der Erneuerung seiner Dauerausstellung, die nach drei Jahren Arbeit als Referenzausstellung wiedereröffnet wurde. In ähnlichen Alterssphären bewegt sich das Landesmuseum Zürich: 2023 zelebrierte es sein 125-jähriges Bestehen – allen Jubilierenden herzliche Gratulation!

Noch mehr als jubiliert wurde 2023 rotiert – es folgen die wichtigsten Personalwechsel, viele von ihnen schon zum Jahresbeginn: So wechselte Marcel Henry vom Kinderdorf Pestalozzi zum Museo Hermann Hesse Montagnola und übernahm die Museumsleitung, Thomas Egger ist neuer Leiter der Zentralstelle historisches Armeematerial (ZSHAM), und Ute W. Gottschall leitet das Ziegelei-Museum als Nachfolgerin von Jürg Goll. Ebenfalls Anfang 2023 wurde gemeldet, dass David Bruder schon seit einigen Monaten der neue Leiter des Museums Rosenegg in Kreuzlingen ist. Auch bei «Camille Bloch – Die Chocolaterie zum Erleben» wurde Afang Jahr ein Leitungswechsel kommuniziert: Neuer Direktor ist Hans-Ruedi Reinhard, der Joëlle Vuillème ersetzte. Wir bleiben in der Romandie: Die langjährige stellvertretende Kuratorin Fanny Abbott trat nach der Pensionierung von Françoise Lambert auf Ende 2022 die Leitung des Musée Historique de Vevey an, und im mudac ging die Direktorin Chantal Prod’Hom im Januar in Pension – auf sie folgte Beatrice Leanza als neue Direktorin.

Ebenfalls pensioniert wurde Ulrich Schädler, Leiter des Musée Suisse du Jeu, sein Nachfolger ist seit April Selim Krichane. Nachfolgerin von Elke Larcher als Leiterin des Klostermuseums Müstair ist Romina Ebenhöch, neuer Leiter von SBB Historic ist Mario Werren, der auf Stefan Andermatt folgt. Im Kunsthaus Zug ging Kurator Marco Obrist in Frühpension, neue Kuratorin ist Jana Bruggmann und neue Registratin Alexandra Sattler. Mitte 2023 trat Christine Keller aus S-chanf die Stelle als Leiterin des Mili Weber Museums in St. Moritz an. Ebenfalls Mitte Jahr teilte das Migros Museum für Gegenwartskunst mit, dass die Leiterin Heike Munder das Museum verlässt und es neu auf kollektive Führungsstrukturen setzt. Zum gleichen Zeitpunkt gab Severin Bischof die Geschäftsführung des Kirchner Museums Davos an Bianca Bauer ab. Ebenfalls im Sommer verliess mit Daniel Schmezer die eine Hälfte der Co-Leitung das Sensorium Rüttihubelbad, die andere Hälfte bleibt mit Hans-Ueli Eggimann bestehen. Betriebsleiterin Moscha Huber hat das Museum Schaffen verlassen, die künstlerische Leiterin Sibylle Gerber ist bis im Frühjahr 2024 im Mutterschaftsurlaub, und so übernimmt die Leitung ad interim ein Führungsausschuss aus dem Vorstand des Historischen Vereins Winterthur – Träger des Museums Schaffen –, bestehend aus Rita Borner, Anja Huber und Chris Huggenberg. Im Musée suisse de l’appareil photographique geht Luc Debraine in Pension, Pauline Martin übernimmt das Direktorium. Auch das Ortsmuseum Zollikon bekam Anfang 2023 mit Bruno Heller eine neue Leitung und blieb bis zur Eröffnung der neuen Sonderausstellung im Frühling geschlossen – und dies ist die Überleitung in den nächsten Abschnitt.

Nun folgen nämlich Umbauten, Neueröffnungen und Umbenennungen im letzten Jahr: Das Musée du Mont-Repais blieb bis im Frühling geschlossen für eine Renovation, das Museo della civiltà contadina di Stabio schloss seine Tore während eines Jahres für umfassende Umbauten und Arbeiten an den Sammlungen, des Archivs und der Bibliothek, im November 2023 wurde wiedereröffnet. Doppelt so lange renoviert wurde im Genfer Musée International de la Réforme, dafür schon im Mai 2023 Wiedereröffnung gefeiert. Ein grosses Bauvorhaben noch vor sich hat die Fondation Martin Bodmer in Cologny: Seit Juli 2023 und bis ins Frühjahr 2025 bleiben die Räume für Erweiterungs- und Umbauarbeiten geschlossen.

Es wurde nicht nur umgebaut, sondern auch umgezogen und umbenannt: So schloss das ENTER in Solothurn Ende Mai 2023 seine Tore, zog nach Derendingen um und eröffnet da mit dem neuen Namen Enter Technikwelt Solothurn am 1. Dezember 2023 wieder. Auch die Kunsthalle Ziegelhütte und das Museum im Lagerhaus treten mit neuem Namen auf: Erstere heisst neu Kunsthalle Appenzell und Letzteres open art museum. Und schliesslich gibt es auch eine Fusion mit neuem Namen: Seit Anfang 2023 tragen das Musées cantonaux de zoologie, de géologie und die Musée et Jardins botaniques cantonaux im Kanton Waadt den gemeinsamen Namen Muséum cantonal des sciences naturelles – Naturéum.

Wieder wurden Museen aus der Schweiz am European Museum of the Year Award ausgezeichnet: Die Abbatiale de Payerne wurde im Rahmen einer Special Commendation gewürdigt, und das Schweizerische Agrarmuseum Burgrain gewann den Meyvaert Museum Prize for Sustainability, nachdem es bereits im Dezember 2022 den Prix Expo für die beste naturwissenschaftliche Ausstellung erhalten hatte.