Carine Bachmann im Gespräch: Welches sind die Schwerpunkte der Kulturbotschaft 2025–2028? Was hat es mit der nationalen Kulturerbestrategie auf sich, und welches Verhältnis pflegt die Direktorin des BAK zur Schweizer Museumslandschaft? Andrea Kauer Loens, Vizepräsidentin VMS, und Tobia Bezzola, Präsident ICOM Schweiz, trafen Carine Bachmann im Juli 2023, rund eineinhalb Jahre nach Amtsantritt, in Bern zum Austausch. Moderiert und verschriftlicht wurde das Gespräch von Katharina Flieger.
Katharina Flieger: Frau Bachmann, Sie haben Sozialpsychologie, Filmwissenschaft und Völkerrecht studiert, der Weg zu Ihrer heutigen Tätigkeit hat Sie über verschiedenste berufliche Stationen geführt. Inwiefern hat sich durch Ihren Werdegang Ihr Blick auf die Schweizer Museumslandschaft verändert?
Carine Bachmann: Ich habe mich stets für Fragen des Zusammenspiels zwischen Individuen und Gesellschaft interessiert, wie gesellschaftliche Diskurse individuelle Identitäten prägen. Mein erstes Arbeitsfeld lag im Filmbereich, wo ich für ein Experimentalfilmfestival gearbeitet habe. Dort beschäftigte ich mich unter anderem mit Fragen, wie in Dokumentarfilmen der Effekt der Realität hergestellt wird.
Danach habe ich rund zehn Jahre in der Entwicklungszusammenarbeit und Konfliktprävention im Kaukasus und in Zentralasien gearbeitet. Zu einer Zeit, in der die Sowjetunion zusammenbrach und neue Nationalstaaten entstanden, lag mein Fokus auf der Sprach- und Minderheitenpolitik. Die zentrale Frage lautete in dem Kontext: Welche Politiken kann ein Staat einführen, um die kulturelle Vielfalt zu stärken? Und wie kann diese Stärkung der kulturellen Vielfalt zu einem Fundament des sozialen Friedens und nicht zu Konflikten und Krieg führen? Dies beschäftigt mich bis heute, eigentlich arbeiten wir beim BAK an ebendiesen Fragen.
In den darauffolgenden zwölf Jahren habe ich für die Stadt Genf gearbeitet, als Direktorin des Departements für Kultur und digitale Transformation. Dort war der Bezug zu den Museen konkret: Ich war für die fünf städtischen Museen verantwortlich und initiierte einen partizipativen Prozess, um die Genfer Museumslandschaft zu stärken und besser zu positionieren. Der Prozess resultierte in der Gründung der Genfer Museumskonferenz, einer Strategie für die Genfer Museumspolitik und gemeinsamen Aktionen. Mein Bezug zur Museumslandschaft wandelte sich also von einem theoretischen Verständnis zu einer sehr konkreten Auseinandersetzung mit Aspekten wie Publikumsstatistiken, kultureller Teilhabe oder etwa der Frage, wie provokativ oder unterhaltend ein Museum sein darf – eine unheimlich spannende Erfahrung.
KF: Sie gelangten also von einem theoretischen, auch philosophischen Verständnis von Museen zur praktischen Auseinandersetzung mit den Institutionen in Genf. Beim BAK bewegen Sie sich in einem anderen Rahmen, weiter weg von der konkreten Arbeit. Könnten Sie kurz beschreiben, wie sich die Museen beim BAK eingliedern?
CB: Die Arbeit des BAK besteht einerseits darin, die Bundessammlungen zu pflegen und attraktiv zu vermitteln. Andererseits ist es unsere Aufgabe, Museen mit Sammlungen von gesamtschweizerischer Bedeutung und Netzwerke des Kulturerbes finanziell zu unterstützen. Darüber hinaus ist das BAK mit dem Vollzug des Bundesgesetzes über den internationalen Kulturgütertransfer betraut. Dieses Gesetz setzt die UNESCO-Konvention von 1970 um und regelt die Einfuhr von Kulturgut in die Schweiz, seine Ausfuhr und Rückführung aus der Schweiz sowie Massnahmen gegen die rechtswidrige Übereignung. Damit will der Bund einen Beitrag zur Erhaltung des kulturellen Erbes der Menschheit leisten und Diebstahl, Plünderung und illegale Ein- und Ausfuhr von Kulturgut verhindern. Hier sind wir im zwischenstaatlichen Bereich aktiv, sei es im Hinblick auf den Abschluss bilateraler Abkommen zum Kulturgütertransfer oder bei Restitutionen von Kulturgütern, welche in der Schweiz in einem Strafverfahren eingezogen wurden.
Tobia Bezzola: Wie findet in der Praxis die Kommunikation über die verschiedenen Ebenen zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden statt?
CB: Seit 2011 haben wir dafür ein institutionalisiertes Format, den nationalen Kulturdialog. Da kommen der Gemeindeverband, der Städteverband, die Kantone und der Bund auf technischer und politischer Ebene regelmässig zusammen. Verbindliche Entscheide werden da nicht gefällt, sondern Diskussionen geführt, Best Practices ausgetauscht und Empfehlungen abgegeben. Eine Arbeitsgruppe des nationalen Kulturdialogs arbeitet zum Beispiel an der Formulierung einer nationalen, übergeordneten Strategie zur Bewahrung, Entwicklung und Vermittlung unseres Kulturerbes. Initiiert wurden diese Arbeiten durch eine Motion der WBK (Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur) des Ständerates. Das ist eine komplexe und schwierige Aufgabe, aber auch eine hochinteressante. Es scheint mir sinnvoll zu sein, dass sich jede Generation die Frage stellt, was wir in der Schweiz sammeln sollten und wollen und wo die Herausforderungen im Umgang mit unserem Kulturerbe liegen. Die Strategie sollte 2024 vorliegen. Die Umsetzung wird eine breite Abstützung durch die relevanten Partner benötigen und Ressourcenfragen aufwerfen.
Andrea Kauer: Diese nationale Kulturerbestrategie wird in Museumskreisen mit Interesse erwartet, zumal ja auch die Kulturbotschaft mehrfach darauf Bezug nimmt. Darüber hinaus gibt es zum einen die Motion zur Schaffung einer Plattform für Provenienzforschung (Motion WBK-S) und zum anderen die Motion für die Bildung einer Kommission für Provenienz- und Restitutionsfragen (Motion Pult). Gibt es Neuigkeiten zum Stand dieser Vorlagen, die für die Museumswelt sehr wichtig sind?
CB: Bezüglich der Schaffung einer Plattform für Provenienzforschung sind wir an der Arbeit: Erst müssen wir über einen Zusatz im Kulturgütertransfergesetz die nötige Gesetzesgrundlage schaffen, die es uns dann erlaubt, ein solches Vorhaben finanziell zu unterstützen. Die Idee ist nicht, dass der Bund diese Plattform selbst betreibt, sondern dass Externe unterstützt werden.
Die zweite Motion beauftragt den Bundesrat, eine Expertenkommission zu NS-Raubkunst zu schaffen und abzuklären, ob dabei auch Kulturgüter aus anderen Kontexten wie z. B. aus kolonialen Kontexten berücksichtigt werden sollten. Auch dort sind wir auf Kurs und hoffen, dass die Kommission so bald wie möglich die Arbeit aufnehmen kann. Die meisten umliegenden Länder verfügen bereits über vergleichbare Expertenkommissionen. Wir pflegen sehr gute Kontakte zu den entsprechenden Verantwortlichen und konnten mit ihnen die Vor- und Nachteile der wichtigsten Punkte diskutieren. Klar ist: Die Kommission wird den Auftrag haben, nichtbindende Empfehlungen abzugeben. Dabei können nicht nur Empfehlungen zu möglichen Restitutionen abgegeben werden. Restitution ist eine von vielen Optionen in der Suche nach fairen und gerechten Lösungen. Es kommen auch – temporäre oder dauerhafte – Leihgaben in Frage oder die Herstellung von Replikaten der Objekte, die dann im Ursprungsland und in der Schweiz ausgestellt werden. Wie auch Empfehlungen, dass ein Museum die Provenienz des betroffenen Kulturgutes besser dokumentieren und für das Publikum zugänglich machen sollte.
Zurzeit arbeiten wir daran, die noch offenen Fragen abzuklären: Sollen auch Kulturgüter aus kolonialen Kontexten von dieser Kommission behandelt werden und wenn ja – wie Sie wissen, sind das unterschiedliche Kontexte –, was bedeutet dies für die Zusammensetzung und das Funktionieren der Kommission? Die nächste Frage sind die Eintrittsvoraussetzungen: Muss bereits Provenienzforschung durchgeführt worden sein? Muss bereits ein Schlichtungsversuch zwischen dem Museum, der Besitzerschaft und dem Antragsstellenden erfolgt sein? Ich glaube, alle sind sich bewusst: Diese Kommission ist ein Eskalationsinstrument für Fälle, die auf anderem Wege nicht gelöst werden können. Wenn sich keine Lösung abzeichnet, finde ich es gut, dass eine Expertenkommission, der weder Besitzer:innen noch Antragsstellende angehören, den Streitfall untersucht und eine Empfehlung abgeben kann.
AK: Aus Sicht der Museen und des VMS ist es sehr positiv, dass der Bund das Thema der Provenienzforschung auf verschiedenen Ebenen vorantreibt. Während im Bereich der NS-Raubkunst vorwiegend Kunstmuseen betroffen sind, erweitert sich das Feld, wenn wir etwa klassische archäologische Objekte oder solche mit kolonialem Hintergrund anschauen. Das sind Themen, die viele kleine Museen betreffen, und gerade dort steht noch viel Grundlagenarbeit an. Das führt in ein nächstes Handlungsfeld, zu den Arbeitsverhältnissen im Kulturbereich und einer verbesserten sozialen Absicherung: Diese kleinen Museen, die ohnehin mit sehr knappen Mitteln ausgestattet sind und den Alltag nur dank viel Freiwilligenarbeit und Herzblut bewältigen, müssen zuerst in die Lage versetzt werden, Provenienzforschung betreiben zu können.
CB: Ja, das liegt mir sehr am Herzen. Die Provenienzforschung ist eine Aufgabe der Museen, und viele der grossen Museen in der Schweiz haben in den letzten Jahren diesen Bereich professionalisiert und ausgebaut. Bei gewissen kleinen und mittleren Museen sind die finanziellen und personellen Ressourcen nicht da, um diese wichtige Aufgabe zu bewältigen. Gerade diese Museen werden in den nächsten Jahren eine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Unterstützung brauchen. Für die Erarbeitung der dafür nötigen Grundlagen und Instrumente ist die Zusammenarbeit mit dem VMS und anderen Verbänden fundamental.
TB: Die Verbände können den Prozess auch mit Blick auf die Ausbildung unterstützen. Da geht es nicht nur um die akademische Ausbildung, sondern auch um Weiterbildungen. Da gibt es Handlungsbedarf.
CB: Unbedingt. Für die Phase von 2016 bis 2024 standen 5.7 Millionen Franken für Provenienzforschung zur Verfügung. In der neuen Kulturbotschaft haben wir mehr Mittel vorgesehen, die relativ flexibel eingesetzt werden können.
Provenienzforschung ist eine Bereicherung für Museen, ein Beitrag, um durch eine gegenwartsrelevante Auseinandersetzung das Kulturerbe lebendig zu erhalten. Provenienzforschung befähigt, dem Publikum die Geschichte eines Kulturgutes aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen. Dabei ist es wichtig, dass man sich auch der historisch belasteten Vergangenheit stellt.
TB: Wenn Sie jemandem kurz erklären müssten, warum es eine neue Kulturbotschaft braucht und was daran neu ist – was sagen Sie da?
CB: Das übergeordnete Ziel ist, die Kultur in der Schweiz als eigenständigen Wert anzuerkennen und den Kultursektor zu stärken. Noch immer wird Kultur von vielen als «Nebengeschäft» oder «nice to have» angesehen – solange es uns gut geht, leisten wir sie uns, und sonst nicht. Doch wir wollen und müssen den Kultursektor stärken. Während der Pandemie ist das Bewusstsein für die gesellschaftliche Relevanz der Kultur gestiegen; das ist eine Chance. Gleichzeitig hat die Pandemie aber auch die Systemschwächen des Kultursektors hervorgehoben. Die prekären Arbeitsbedingungen von Kulturschaffenden sind zum Beispiel nichts Neues, aber seit der Pandemie sind sie schwarz auf weiss dokumentiert. Auch gewisse Tendenzen wie der Konsum von digitalen Inhalten haben durch die Pandemie eine exponentielle Beschleunigung erfahren. Deshalb haben wir bei der Ausarbeitung der Kulturbotschaft entschieden, unter Einbezug der kulturellen Organisation und der staatlichen Partner eine Auslegeordnung der aktuellen Herausforderungen für die Kultur in der Schweiz vorzunehmen. Dieses Vorgehen ist neu. Aus den Hearings wurden dann sechs Handlungsfelder definiert, und zwar aus einer gesamtschweizerischen Perspektive. Auch das ist neu.
Die Ambition der Kulturbotschaft 2025–2028 ist es, die identifizierten Herausforderungen zielorientiert und pragmatisch anzugehen, natürlich im Rahmen unseres föderalistischen Systems. Für den Bund heisst dies, dass er vor allem subsidiär handelt und sich auf Vorhaben von gesamtschweizerischem Interesse konzentriert. Wir verstehen Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik. Wir sind ein multikulturelles und mehrsprachiges Land mit einer tief verwurzelten Tradition der politischen und sozialen Partizipation. Unsere wichtigste Ressource sind die Menschen … Deshalb verfolgt die Kulturpolitik des Bundes weiterhin die drei langfristigen Wirkungsziele: die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der kulturellen Teilhabe und der Kreation und Innovation.
KF: Herr Bezzola und Frau Kauer, wie schätzen Sie aus Ihren jeweiligen unterschiedlichen Perspektiven die Signalwirkung dieser Kulturbotschaft auf andere Entscheidungsträger:innen und Ebenen der Kulturpolitik ein?
TB: Wichtig ist diesbezüglich die explizit unterstrichene Bedeutung der Provenienzforschung. Oft sind gar nicht die Museen die Eigentümer der Werke, sondern Kantone oder Städte. Künftig soll kein Stadtpräsidium und keine Kantonsregierung mehr sagen können, dass die Frage der Provenienz für sie kein Thema sei, darüber wolle man nicht diskutieren. Auch wenn es kein Gesetz auf Verfassungsebene ist, schaut man auf kommunaler und kantonaler Ebene, was der Bund dazu sagt.
AK: Darüber hinaus hat die Kulturbotschaft Signalwirkung für Stiftungen und nicht zuletzt für die Institutionen in ihrer Positionierung. Sie setzt Schwerpunkte und gibt eine Stossrichtung vor, die sich dann auf alle Ebenen auswirkt.
CB: Die meisten Herausforderungen betreffen alle drei Staatsebenen. Zusammenarbeit und, wenn sinnvoll, auch die Koordination der Massnahmen sind deshalb eine Voraussetzung für eine kohärente und effiziente Kulturpolitik in der Schweiz. Es braucht eine Bündelung der Kräfte!
Unsere finanziellen Mittel sind beschränkt. Eine Herausforderung gibt es unter anderem bei der Unterstützung von Netzwerken. Die Typologie der unterstützten Netzwerke ist relativ disparat und sie werden auch finanziell sehr unterschiedlich unterstützt. Zudem haben wir in diesem Bereich neue Aufgaben, aber nicht mehr Mittel. Wir müssen diesen Bereich konzeptionell überarbeiten, auf der Basis der nationalen Kulturerbestrategie. Die Idee ist nicht, Mittel zu kürzen: Alle Organisationen leisten eine wertvolle Arbeit. Wir möchten idealerweise nicht den gleichen «Kuchen» mit mehr Parteien teilen, sondern den «Kuchen» vergrössern. Die Neukonzeption der Unterstützung der Netzwerke Dritter wird sicherlich eine der wichtigen Baustellen der nächsten Jahre sein. Wir werden die anstehenden Diskussionen mit grösster Sorgfalt angehen und die relevanten Stakeholder einbeziehen.
TB: Würden Sie sich manchmal wünschen, dass der Bund ein ähnliches Netz an Bundesmuseen hätte, wie dies in Frankreich, Spanien etc. der Fall ist und wo die Politik gesamtheitlich koordiniert wird? Bedeutet das Fehlen breiter, nationaler Netze ein Steuerungsdefizit für die Kulturpolitik insgesamt?
CB: Diese Frage stellt sich für mich nicht. Der Föderalismus und die damit einhergehende Kompetenzverteilung haben viele Vorteile, auch kulturpolitisch. In der Schweiz ist Kultur eine Sache von jedem und jeder und nicht nur die einer Elite. Die Frage ist: Wie können wir mit unserer föderalistisch ausgerichteten Kompetenzaufteilung die Kultur in der Schweiz unterstützen und was kann und soll der Bund in einem gesamtschweizerischen Interesse dazu beitragen? Das hat nichts mit Zentralismus zu tun. Ich sehe das Bundesamt für Kultur auch als einen Ermöglicher, Koordinator und manchmal auch Initiator. Nehmen wir als Beispiel die digitale Transformation. Es ist nicht besonders effizient, wenn jedes Museum ein eigenes digitales Langzeitarchiv aufbaut. Da wäre es vermutlich sinnvoller, sich zusammenzusetzen und zu überlegen, wie so ein gemeinsames Bedürfnis, das sehr kosten- und ressourcenintensiv ist, gemeinsam angegangen werden könnte. Solche Diskussionen zu ermöglichen und zu koordinieren kann für mich auch ein Auftrag des Bundes sein.
Autorin: Katharina Flieger