Carmen Simon und Veronica Carmine im Dialog: Regionalmuseen im Spannungsfeld zwischen einem Angebot für Touristen und als Ankerpunkt für Einheimische.
Carmen Simon leitet das Regionalmuseum Chüechlihus in Langnau im Emmental, Veronica Carmine das Verzasca-Museum in Sonogno im Tessiner Verzascatal: Zwei ähnliche Museumsrealitäten in zwei ganz unterschiedlichen Regionen der Schweiz. Schon die Entfernung zwischen dem Emmen- und Verzascatal ist beträchtlich, was dazu geführt hat, dass das Treffen zwischen den Museumsleiterinnen nicht physisch stattgefunden hat, sondern virtuell via Zoom. Für beide Museen sind Tourist:innen von entscheidender Bedeutung, aber gerade der Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung stellt eine grosse Herausforderung dar. Im Gespräch zeigen sich Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede.
Können Sie ihre Museen jeweils kurz beschreiben?
Carmen Simon: In den 1930er-Jahren hat man in Langnau im ältesten Holzgebäude der Region ein Museum einzurichten begonnen. 1981 ist das ganze Haus zum Museum geworden. Unser Motto lautet: «Das Emmental in einem Haus». Unsere Institution beinhaltet 1000 Quadratmeter Ausstellungsfläche, 400 Quadratmeter Depotfläche und 25'000 Objekte zum Emmentaler Kulturgut. In 25 von 26 Ausstellungsräumen befindet sich eine Dauerausstellung. Dabei haben wir auch Kulturgüter von nationaler Bedeutung wie die Langnau-Keramik.
Veronica Carmine: Unser Museum ist sehr klein und besteht aus zwei Gebäuden in Sonogno, dem letzten Ort im Verzascatal auf 900 Metern Höhe. Ein Haus ist historisch – es stammt aus dem 18. Jahrhundert. Das zweite Haus ist neu und wurde 2017 auf dem Platz einer Postauto-Garage erstellt. Das Museum hat lange Zeit Ausstellungen zu klassischen Themen wie «Milch» oder «Wolle» angeboten, um eine aussterbende Kultur zu zeigen. Es gab 3000 Objekte einer ländlichen Kultur.
Dann haben Sie 2017 das Konzept grundlegend verändert. Warum?
Veronica Carmine: Ja, wir haben uns dann auf einige grundsätzliche Themen konzentriert. Zum Beispiel auf die Frage: Wie hat sich die Landschaft im Laufe der Zeit verändert? Dabei leitete uns auch ein touristischer Aspekt. Die Tourist:innen sehen einfach die grüne Verzasca und die Schönheit des Tales. Unser Leitgedanke war aufzuzeigen, wie die Menschen in dieser Landschaft gelebt und gearbeitet haben. Im alten Haus gehen wir auf Themen wie Armut, Kinderarbeit und Kaminfeger ein – und konfrontieren die historischen Aspekte mit der heutigen Situation auf der Welt.
Carmen Simon: Das ist sehr spannend. Unsere Museen stehen an unterschiedlichen Punkten. Bisher hat man sich in Langnau auf das Sammeln und Ausstellen der Emmentaler Vergangenheit konzentriert. Themen wie «Käsehandel» oder «Leinen» finden sich in der Dauerausstellung. Ich habe das Museum vor zwei Jahren übernommen und wir arbeiten nun auch an einem Übergang. Wir haben ein partizipatives Projekt mit dem Eishockey-Club SCL Tigers durchgeführt. Denn bisher hatten wir kein Objekt in der Sammlung, das aus der Zeit nach 1950 stammt, also genau aus der Zeit, in welcher der örtliche Schlittschuh-Club als SCL Tigers bekannt wurde und den Namen Langnau ins Land hinaustrug.
Wer besucht denn ihre Museen?
Carmen Simon: Unser Haus ist im Grunde auf Tourist:innen und Gäste ausgerichtet, obwohl Langnau selbst eigentlich kein Tourismushotspot ist. Wir zählen zirka 8'000 Gäste pro Jahr im Chüechlihus, darüber hinaus pflegen wir aber noch viele Kontakte über die sozialen Medien und ermöglichen mit partizipativen Projekten die Teilhabe über unsere Webseiten: Insgesamt können wir so zirka 13'500 Menschen involvieren.
Zu den Veranstaltungen unseres Museums kommen dann aber eher die Einheimischen. Unsere Herausforderung ist, dass unser Museum hauptsächlich aus einer Dauerausstellung besteht, die auf der historischen Sammlung basiert und somit zu wenig Abwechslung bietet, um das Museum häufiger zu besuchen. Es ist genau meine Aufgabe, ein neues Gleichgewicht herzustellen. Wir suchen nun die Partizipation der Bevölkerung, damit sie sich als Teil des Hauses fühlen.
Wie zeigt sich das konkret?
Carmen Simon: Das Projekt mit dem Schlittschuh-Club habe ich bereits erwähnt. Wir haben das Museum ganzjährig und neuerdings im Winter nicht nur an den Sonntagen geöffnet, und das hat sich bereits bewährt. Wir spüren ein gestiegenes Interesse von Seiten der Bevölkerung.
Das Museum im Verzascatal ist hingegen nur von Mitte April bis Ende Oktober geöffnet. Wird dies so bleiben?
Veronica Carmine: Unser Museum lebt hauptsächlich von Tourist:innen. Sonogno selbst hat gerade mal 100 Einwohner, das ganze Tal rund 850. Wir zählen zirka 4000 Besucherinnen und Besucher pro Saison. Es ist sicher eine Besonderheit unseres Museums, das sich in der italienischen Schweiz befindet, dass die Hälfte der Besucher:innen deutschsprachig ist. Für uns sehr wichtig ist die Tatsache, dass zusehends auch Schulen unser Museum besuchen.
Verdankt sich die neue Ausrichtung des Verzasca-Museums der starken Präsenz von Touristen?
Veronica Carmine: Wir haben ein neues Konzept eingeführt, aber nicht nur für Tourist:innen. Wir haben etwa festgestellt, dass das Thema der Emigration fehlte. Jetzt lassen sich nach wie vor historische Räumlichkeiten wie eine alte Küche sehen, so wie die Menschen einst gelebt haben. Aber wir haben Räume hinzugefügt, die an eine generelle Problematik heranführen, etwa die Armut. Warum sind im Verzascatal nicht alle Kinder im Winter in die Schule gegangen? Weil einige sich als Kaminfeger verdingen mussten, etwa in Mailand. Wir schlagen dann den Bogen zur Kinderarmut, die es auch heute auf der Welt gibt.
Carmen Simone: Das finde ich hoch interessant. Es zeigt sich: Man kann die Geschichte aus heutiger Sicht kritisch betrachten und hinterfragen. In einer Tourismusdestination ist das nicht einfach, weil sich die Leute gerade in den Ferien nicht gross Gedanken machen wollen. In einer gelungenen Museologie gelingt es aber, den Gästen ein gutes Erlebnis bieten und gleichzeitig zum Nachdenken anzuregen. Wir müssen aus dem Hier und Jetzt eine Beziehung zum Kulturerbe herstellen. Und hinter dem Kulturerbe stecken immer Menschen. Als Museumsmacherinnen müssen wir diese Verbindung herstellen. Wenn wir das nicht schaffen, verlieren wir an Relevanz.
Veronica Carmine: Genau. Wir müssen nicht einfach nur deskriptiv sein, sondern auch analysieren. Das unterstreicht übrigens auch die neue Museumsdefinition, die vom Internationalen Museumsrat ICOM anlässlich der Jahrestagung 2022 in Prag ausgearbeitet wurde. Demnach muss sich ein Museum mit der Gesellschaft vernetzen, aus den eigenen vier Wänden ausbrechen und partizipativ sein.
Doch im Falle von Tourist:innen kann sich ein Problem auftun. Viele wollen sich gerade in den Ferien nicht mit den Problemen der Welt belasten und lieber abschalten. Sie sagen nun, diese müssten zum Nachdenken über die Gegenwart angeregt werden. Wie lassen sich diese unterschiedlichen Bedürfnisse und einen Hut bringen?
Carmen Simone: Ich finde in diesem Zusammenhang sehr wichtig, was meine Kollegin Veronica gesagt hat. Wir haben seit letztem Jahr eine neue Museumsdefinition. Bewahrung und Vermittlung von Kulturerbe ist wichtig, aber genauso die Interpretation und Diskussion dieses Erbes. Also: Erlebnis, Reflexion und Diskussion. Das ist die grosse Kunst. Und Museen sollen dazu auch noch Spass machen. Ich finde es gut, dass wir nun diesen Auftrag offiziell haben.
Haben sich Regionalmuseen dank dieser neuen Museumsdefinition emanzipiert gegenüber den grossen Museen?
Veronica Carmine: Es ist vor allem ein Prozess der Professionalisierung. Bei uns wurden die Regionalmuseen – früher Heimatmuseen genannt – lange von Lehrerinnen und Lehrern nebenbei gemacht. Der neue Auftrag erfordert mehr Professionalisierung.
Carmen Simone: Ich habe Museumswissenschaften mit einem Master abgeschlossen und auch in grossen Häusern wie dem historischen Museum von Basel gearbeitet. Doch ich finde die Arbeit in einem Regionalmuseum sehr spannend und keineswegs weniger attraktiv als in einem grossen Museum. Natürlich sind die Herausforderungen gross, aber es besteht unglaublich viel Potential. Hier geht es um wichtige Dinge wie Heimat und Identität. Es würde mich in diesem Zusammenhang auch sehr interessieren, wie ihr im Verzascatal mit der lokalen Bevölkerung zusammenarbeitet.
Veronica Carmine: Wir lancieren partizipative Projekte und suchen den Kontakt über Social Media. Wir betreiben die Facebook-Gruppe «Se sei verzaschese» (Wenn du ein Verzasche bist) mit über 1400 Mitgliedern. Ein Beispiel: Ich habe das Museum während der Gastronomischen Wochen in die Restaurants unserer Region gebracht. Es gab etwa den «Event Staudamm». Alle waren eingeladen, an einem bestimmten Tag und zu einer bestimmten Zeit ein Objekt mitzubringen, das sie mit dem Verzasca-Staudamm verbindet.
Eine Art kultureller Stammtisch mit der Bevölkerung. Ich habe aufgenommen, was sie dazu zu sagen hatten. Später habe ich mit den Objekten und Audio-Aufnahmen eine eigene Ausstellung im Museum entwickelt. Und wer kam dann? Die Leute aus dem Tal, um ihre Sachen anzuschauen oder ihre Erzählungen anzuhören.
Carmen Simone: Mit dem Eishockey-Club Langnau haben wir etwas sehr Ähnliches gemacht. Wir lancierten einen Aufruf mit der Einladung, Objekte zu bringen und dazu die jeweiligen Geschichten zu erzählen. Der Erfolg war gross: Sogar heute kommen die Leute noch vorbei und erzählen. Ich lade diese Erzählungen auf eine App hoch, so dass sie von anderen Besucher:innen beim Betrachten eines Objekts angehört werden kann.
Ein weiteres Projekt dreht sich um Objekte, die wir aus unserer Sammlung entlassen, auch hier gemeinsam mit der Bevölkerung. Das ist sehr spannend, weil auch am Stammtisch über Museumsprozesse diskutiert wird, etwa über die Frage, ob ein Museum überhaupt Gegenstände weggeben darf. Sogar online können Teilnehmende über die «Entsammlung» abstimmen, sich mit einer Idee für die Weiterverwendung auf die Gegenstände bewerben und schliesslich gemeinsam entscheiden, welche Ideen überzeugen.
Veronica Carmine: Das ist sehr spannend, aber auch anspruchsvoll. Am Ende geht es vor allem um einen Demokratisierungs- und Mediationsprozess in der Museumslandschaft, den wir mittragen wollen. Es ist nicht mehr der Kurator oder die Kuratorin, die durch eine Ausstellung einfach Wissen vermittelt, sondern es sind die Benutzer:innen, welche das Museum durch ihre Erfahrungen und ihr Wissen mitprägen.
Gesprächsführung und Gesprächsaufzeichnung: Gerhard Lob