Der Blick über die Grenzen führt in die Ukraine, deren kriegsbedrohte Museen und Kulturgüter unkomplizierte Hilfe benötigen. Was in der Ukraine als Verpackungsmaterial für Gegenstände ankommt, schützt im Grunde die ukrainische Identität.
Als sich Kyjiw, anders als vom Kreml geplant, Ende Februar nicht innert weniger Tage einnehmen liess und die Einsicht durchsickerte, dass dieser Krieg anhalten könnte, veränderte sich das Pflichtenheft von Iryna Nikiforova in Kyjiw. Seit 15 Jahren setzt sie sich bereits in zahlreichen Gremien, Räten und Kommissionen für den Schutz des historischen und kulturellen Erbes ihrer Heimat ein, das 400 Museen und 3000 Kulturstätten umfasst, darunter sieben Welterbestätten. «Nun fragte mich ein Vertreter des Netzwerks Kulturgutschutz Ukraine am Telefon, ob ich mir vorstellen könne, den Bedarf an Hilfsgütern für Kulturstätten in der Ukraine zu ermitteln, zu bündeln und die Hilfslieferungen zu verteilen.» Sie konnte.
«Das Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine hat sich unmittelbar nach Ausbruch des Krieges in Kooperation mit der Deutsch-Ukrainischen Gesellschaft für Wirtschaft und Wissenschaft gegründet, um unbürokratisch und unkompliziert das durch den Krieg gefährdete Kulturgut – und damit das kulturelle Gedächtnis des Landes – zu schützen», erzählt Olena Balun. Die ukrainischstämmige Kunsthistorikerin und Dolmetscherin mit Sitz in Rosenheim wurde quasi über Nacht zur hauptamtlichen Koordinatorin dieses Netzwerks, und auch sie stellte ihre eigentlichen Aufgaben dafür zurück: jene als Kuratorin und Vorstandsmitglied des Kunstvereins Rosenheim. Stattdessen ermittelt sie seit März im engen Austausch mit Kolleg:innen wie Iryna Nikiforova den Bedarf an Hilfsgütern, darunter Verpackungsmaterialien, Transportkisten, Material und Werkzeuge für die Restaurierung, Feuerlöscher, Brandschutzdecken, brandhemmende Lacke und Arbeitsgeräte.
In enger Zusammenarbeit mit diesem Netzwerk und mit Unterstützung des Bundesamts für Kultur koordinieren VMS und ICOM Schweiz die hiesigen Hilfsaktivitäten zum Schutz des ukrainischen Kulturerbes. Zur Koordination wurde eine Taskforce ins Leben gerufen mit Vertreter:innen des Bundes, des Landesmuseums und von ICOMOS Schweiz. Bis heute gelang es, zwölf Lkw, fünf Busse sowie drei Cargo-Züge mit Hilfslieferungen an betroffene Museen und Institutionen in der Ukraine zu entsenden – dank Transportunternehmen, privaten Stiftungen, Museen und anderen Institutionen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz, die Gelder und Güter spenden. Die Zusammenarbeit über Ländergrenzen hinweg sei «enorm effektiv, kollegial und höchst professionell», schwärmt Balun.
Erst analog, dann digital
Zunächst, erklärt Nikiforova, hätten die Museen in besetzten oder von Besetzung bedrohten Gebieten ihre Sammlungen evakuieren müssen. Das heisst, dass Sammlungsgegenstände sowie Kunst- und Kulturgüter objektgerecht verpackt und an geheimen Orten im Land versteckt wurden. Wo diese Verstecke sind, das wissen zum Teil nur die Museumsmitarbeitenden selbst. «Selten», so Balun, «erfüllen die Sicherungsorte, oft Keller, die notwendigen klimatischen Anforderungen, sodass Gemälde, Grafiken, aber auch Skulpturen aus unterschiedlichsten Materialien durch Feuchtigkeit und Schimmelbefall bedroht sind. So kommt es, dass die Mitarbeitenden vor Ort grosse Mengen an Restaurierungspapier, Entfeuchtungsgeräten, Luftfeuchtigkeitsmessern, Stromgeneratoren und Silica-Gel benötigen.»
Nun, nachdem die analogen Kulturgüter versorgt sind, wächst die Nachfrage nach Digitalisierungsinstrumenten und -kompetenzen. Balun erläutert: «Unser Netzwerk unterstützt neu eine ukrainische Initiative namens Skeiron, die seit 2016 damit beschäftigt ist, grössere Kulturstätten und Bauwerke zu fotogrammieren bzw. mit Laser zu scannen und Modelle in 3D zu erstellen. Die Technik ist sehr teuer, die Mitarbeitenden benötigen gute Scanner und solide Server. Seit Kriegsbeginn digitalisieren sie auf diese Weise die wichtigsten Bauwerke, Denkmäler und zunehmend auch Objekte, um im Falle einer Zerstörung die Scans als wichtige Hilfe für den Wiederaufbau der Gebäude nutzen zu können. Diese Kompetenzen gilt es nun weiterzugeben und das Netzwerk durch Fotograf:innen und andere Personen mit entsprechendem Fachwissen sukzessive zu erweitern», so Balun.
Systematische Auslöschung
Das ukrainische Kultusministerium registrierte auf seiner Website Anfang August 2022 Beschädigung, Raub und Zerstörung an 505 Kulturerbestätten oder Kulturinstitutionen, darunter Museen, Kirchen, Archive oder Architekturdenkmäler. Zerstörungen wie jene des Skoworoda-Museums in der Region Charkiw und des Archivs in der Stadt Tschernihiw oder die Plünderung von Museen in Mariupol und Melitopol erlebt Nikiforova als systematisch: «Das russische Regime möchte scheinbar nicht nur unsere Gebäude zerstören, sondern gezielt unsere Geschichte und damit die gesellschaftliche Identität der Ukrainer:innen.» Balun ergänzt: «Kultur ist das, was uns Menschen ausmacht. Sie zu bewahren, heisst, uns selbst zu bewahren. Menschen, Regionen, Städte und Staaten haben eine Identität – und das, was Putin bezweckt, ist die Auslöschung der ukrainischen Kultur.» Unweigerlich landet man bei der Haager Konvention, die besagt, dass es gegen das Völkerrecht verstösst, kulturelles Erbe und Eigentum im Krieg vorsätzlich zu zerstören. Sowohl Russland als auch die Ukraine gehören zu den 133 Unterzeichnern. Wie kann es sein, dass Russland da noch als Mitglied in den grossen Verbänden für Museen und Denkmalpflege wie dem ICOM zählen darf? Diese Frage, die lange wie der Elefant im Raum stand, diskutierte Ende August auch die Generalversammlung des internationalen Museumsrats ICOM in Prag, nachdem das russische Komitee ferngeblieben war. Nun wurde auf die Initiative von ICOM Schweiz hin – mit Unterstützung der Komitees aus Deutschland und Österreich – die gezielte Zerstörung von Kulturgütern durch das russische Regime öffentlich verurteilt.
Blick in die Zukunft
Zu Vermutungen darüber, wie lange dieser Krieg noch andauern wird, lassen sich Nikiforova und Balun nicht hinreissen. Dass die Ukraine siegen werde, steht jedoch für Iryna Nikiforova ausser Frage. Beide Frauen wünschen sich für das flächenmässig grösste Land Europas weiterhin «schnelle und wirksame Hilfe ohne Verzögerungen, die nicht nur Waffen, sondern auch Sanktionen umfasst». Einig sind sie sich auch in dem Wunsch, «dass sowohl Russland als auch die Ukraine durch die westlichen Staaten adäquat wahrgenommen werden». Und man fühlt sich ertappt angesichts der westlichen Ignoranz, nicht mehr über das Erbe dieser traditionsreichen, grossen und vielfältigen Kulturlandschaft zu wissen. Sie zeigt sich nicht zuletzt in der Augenfälligkeit, mit der ukrainische Autor:innen neuerdings Literaturpreise oder ukrainische Musiker:innen den Eurovision Song Contest gewinnen und Sylwestrow auf einer grossen Europatournee gespielt wird. Nikiforova wünscht sich, «dass mit Ende des Krieges alle Nationen kommen, das Land bereisen und Kunst- und Kulturstätten wie die Sophienkathedrale oder die historischen Holzkirchen bestaunen».
Olena Balun erzählt, dass die «ukrainische Avantgarde», zu der sie einst forschte, von den russischen Kolleg:innen nie anerkannt wurde und anerkannt werden durfte. Die Aberkennung wirkte bis in europäische Museen und Ausstellungshäuser, welche die ukrainische, die sowjetische, die georgische oder die slawische Avantgarde mitmeinten, wenn sie von der «russischen Avantgarde» sprachen. Seit 2010, sagt Balun, stelle sie eine stetige Differenzierung und Umbewertung fest. Eine Umbewertung, die ihr ebenso Mut macht wie die Gemeinschaft aus Museen, Stiftungen und anderen Akteur:innen des Kunst- und Kulturbetriebs, die mit gebündelten Kräften eine ganze Landesidentität zu retten hilft.
Autorin: Katharina Nill ist freie Redaktorin, Journalistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Zürcher Hochschule der Künste und ist aktuell in der Unternehmenskommunikation bei der Krebsliga des Kantons Zürich tätig.