Die Schweizer Museumszeitschrift

Museumszeitschrift Nr. 19

Die 19. Ausgabe der Schweizer Museumszeitschrift befasst sich mit dem Thema der Provenienzforschung: Welche Bedeutung hat sie für Häuser wie das Kunst Museum Winterthur oder das Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee? Und welche Möglichkeiten gibt es für Museen, die eigenen Sammlungen kritisch zu reflektieren und die Erkenntnisse für ein breiteres Publikum zugänglich zu machen? Das Musée d’art et d’histoire de Neuchâtel hat mit der neuen Dauerausstellung «Mouvements» einen attraktiven Raum für Debatten zu diesem Thema geschaffen.

Museumszeitschrift Nr. 19

Zur Publikation

Die Schweizer Museumszeitschrift ist das Magazin für die Mitglieder von VMS und ICOM Schweiz. Sie informiert über die Aktivitäten der Verbände und die aktuelle Kulturpolitik, stellt ausgewählte Fachliteratur vor und wirft in Bildstrecken einen Blick hinter die Kulissen der Museen in der Schweiz. Die Zeitschrift erscheint zweimal jährlich in einer mehrsprachigen Ausgabe. Die wichtigsten Artikel sind in ihren Übersetzungen auf museums.ch verfügbar.

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Übersetzungen

Dialog zwischen den Zeiten

Was ist die gesellschaftliche Bedeutung von Museen? Und welche Rolle spielt dabei die Provenienzforschung? Ein Gespräch mit Nina Zimmer und Konrad Bitterli.

Nina Zimmer ist seit 2016 Direktorin des Kunstmuseums Bern sowie des Zentrums Paul Klee. Konrad Bitterli übernahm 2017 die Leitung des Kunst Museums Winterthur, zu dem seit 2018 auch die Sammlung Reinhart am Stadtgarten sowie die Villa Flora gehören. Im Interview mit Susanna Koeberle bieten die beiden einen Einblick in ihre Institutionen.

Der Begriff der Provenienzforschung ist breit gefasst. Mit welchen Themen befassen sich Ihre Museen konkret? 

Bitterli: Seit ich 2017 die Sammlungen des Museums übernommen habe, haben wir die Provenienzforschung institutionalisiert. Grundsätzlich sind unsere Sammlungen gut aufgearbeitet. Allerdings wurden diese Berichte zu Zeiten verfasst, als der Provenienzrecherche noch nicht die heutige Bedeutung beigemessen wurde. Wir haben deswegen begonnen, die Fakten nochmals zu überprüfen und die Lücken zu schliessen. Darin steckt viel Detailarbeit, die hinter den Kulissen geschieht.

Zimmer: Man kennt den Fall Gurlitt am Kunstmuseum Bern. Am Zentrum Paul Klee steht dieses Thema weniger im Vordergrund, da die Klee-Sammlung aus Nachlassbeständen des Künstlers stammt. Seit der Annahme des Legats Gurlitt haben wir uns immer wieder öffentlich zu unseren Arbeitsschritten geäussert. Die Übernahme ist jetzt weitgehend abgeschlossen – wir haben in den letzten Jahren alle viel dazugelernt und neue Fragen gestellt. Und wir sehen es auch als unsere Aufgabe, unsere bestehenden Sammlungen nun mit einem anderen Fokus anzuschauen.

Und das Thema Kolonialismus?

Zimmer: Im Zentrum Paul Klee ist das kein Thema, im Kunstmuseum betrifft das einzelne indigene Objekte aus Legaten. Es ist nicht unser Hauptfokus, aber wir bemühen uns mit derselben Sorgfalt darum.

Bitterli: Auch bei uns ist das nicht der Hauptfokus, wir besitzen keine Werke aus diesem Umfeld. Ich denke, da erwarten gerade Völkerkundemuseen einige Herausforderungen. Man wird auch dort mit derselben wissenschaftlichen Sorgfalt vorgehen müssen, um die Provenienzen zu klären.

Wie wichtig ist es, die Ergebnisse von solchen Recherchen einem grösseren Publikum zu kommunizieren? 

Bitterli: Wenn man exemplarische Fälle hat, lohnt sich das auf jeden Fall, das haben auch die Ausstellungen zur Sammlung Gurlitt in Bern gezeigt. Das meiste ist allerdings bedeutend weniger spektakulär, es stellt sich jeweils die Frage, ob es relevante Ereignisse gibt, die man aufbereiten kann. Das damalige Museum Oskar Reinhart hat schon 2014 und 2015 Fluchtgut-Tagungen organisiert. Dort waren auch die unterschiedlichen Begrifflichkeiten ein Thema. Entscheidend sind Transparenz und Kommunikation.

Zimmer: Ich spüre ein breites Interesse der Öffentlichkeit an diesen Themen. Wir müssen uns fragen, was die geeigneten Formate für eine Vermittlung sind. Im Herbst eröffnen wir die dritte Ausstellung zu Gurlitt unter dem Titel «Gurlitt. Eine Bilanz». Daneben haben wir kleine Interventionsausstellungen in der Sammlung gemacht. Zudem haben wir eine Tagung organisiert zu «Deposita. Verfolgungsbedingte Kulturgutverlagerung und die Folgen für die Schweizer Museen (1933–1950)» und bieten verschiedene Vermittlungsformate an. Wir führen auch Schulklassen in die Thematik ein. Auf der digitalen Ebene gibt es die Datenbank, die seit letztem Dezember online ist und wo der gesamte Bestand recherchierbar ist. Das sind verschiedene Instrumente, um Transparenz und Öffentlichkeit zu schaffen, aber auch Neugier zu befriedigen.

Die Terminologien sorgen für Verwirrung. Die Schweiz machte ja lange einen Unterschied zwischen «Raubkunst» und «Fluchtgut». 

Zimmer: Wir wenden den Begriff des «verfolgungsbedingten Entzugs» an. Das Wichtigste ist immer die Einzelfallprüfung.

Bitterli: Über diese Begriffe ist lange diskutiert worden. Am Schluss bleibt nur eines: Man muss sauber recherchieren und die Fakten auf den Tisch legen, anders geht es nicht. Die Diskussion über Begrifflichkeiten kommt mir manchmal vor wie eine Nebelpetarde.

Was ist die Aufgabe der Museen im Umgang mit der Vergangenheit? Inwiefern kann Kunst dazu beitragen, diese neu zu lesen? 

Bitterli: Kunst hat einen Wert an sich als ästhetisches Objekt. Zugleich eröffnet sie einen kulturgeschichtlichen Zusammenhang und erzählt Geschichten. Das sichtbar zu machen, ist Aufgabe des Museums. Dazu gehört auch die Provenzenzforschung.

Zimmer: Museen sind identitätsstiftende «Maschinen», die Objekte der Vergangenheit für ein heutiges Publikum erschliessen. Sie haben auch die Aufgabe, uns Orientierung zu geben. In unserem Umgang mit Geschichte drückt sich aus, wie wir zusammenleben und als Gesellschaft handeln wollen. Die museale Arbeit ragt immer auch in eine politische Sphäre hinein.

Welche Rolle können Museen spielen bei der Moderation von gesellschaftlichen Prozessen? 

Bitterli: Nicht nur Museen reflektieren solche Prozesse. Die Kunst per se tut dies. Die Museen sind nur die Plattform, um Kunst auszustellen. Was ich zeige und wie, ist dann Aufgabe des Museums. Wie wir mit Kunst aus der Vergangenheit umgehen, reflektiert auch den Umgang mit unserer Herkunft und unserem kulturellen Erbe. Noch wichtiger scheint mir, dass Museen Gegenwart zulassen, denn Kunstschaffende sind die Seismografen von heute.

Zimmer: Es waren auch die Kunstschaffenden, die mit der «Institutional Critique» die kritische Reflexion der Institutionen selbst mit zum Thema gemacht haben. Wir kommen nicht mehr hinter diesen Punkt zurück. Gleichzeitig dürfen wir den Diskurs nicht einfach an die Künstler:innen abdelegieren. Wir haben keinen aktivistischen Auftrag, wir sind ein durch öffentliche Gelder mitfinanzierter öffentlicher Raum, in dem eine Auseinandersetzung möglich wird. Aber wir haben als Museum eine Verantwortung dafür, was wir zulassen und ermöglichen. Es gibt eben ganz viele Ansprüche der Gesellschaft an diesen symbolischen Raum.

Worin sehen Sie das Potenzial eines Crossovers zwischen Sammlungspräsentationen und zeitgenössischen Positionen? 

Bitterli: Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Früher waren Ausstellungen in erster Linie eine Darstellung der Kunstgeschichte. Durch die Konfrontation von Gegenwart und Vergangenheit macht man die Vergangenheit wieder lesbar. Auf der anderen Seite wird das Gegenwärtige, das uns zuweilen fremd erscheint, verständlich, weil es in einen Kontext gesetzt ist. Das sind produktive Ansätze, die Fragen zur Welt und zur menschlichen Existenz stellen. Es geht aber nie darum, die Vergangenheit durch die Gegenwart zu illustrieren.

Zimmer: Mir ist eine enge Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Künstler:innen sehr wichtig, nur durch diese Komplizenschaft stellen wir die richtigen Fragen unserer Gegenwart an die Vergangenheit. Doch man kann nicht einfach mit ein paar Crossover-Interventionen die historische Sammlung aufpeppen. Meiner Meinung nach wird die zeitgenössische Kunst dadurch schnell als «Gewürz» missbraucht.

Wie steht es um die Finanzierung der Provenienzforschung? 

Zimmer: Ein wichtiges Thema, das uns nach wie vor beschäftigt. Es gibt seit 2016 die sehr wertvollen, paritätisch aufgestellten Förderprogramme des Bundesamts für Kultur (BAK). Zudem haben wir nach der Entscheidung, das Gurlitt-Erbe anzunehmen, auch herausragende Unterstützung von privaten Stiftungen bekommen. Für die Kernaufgabe des Museums, zu den eigenen Sammlungen zu forschen, sind wir aber in Zukunft auf Unterstützung durch den Kanton angewiesen.

Bitterli: Dass das BAK Museen bei der Provenienzforschung unterstützt, war sehr wichtig. Eine Konsequenz aus diesen Ansätzen wurde aber nie gezogen: die finanzielle Möglichkeit zu bieten, problematische Werke zurückzuerwerben, um ihre Geschichte der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das ist schade.

Autorin: Susanna Koeberle

Koloniales Erbe in den Museen

Das Musée d’art et d’histoire de Neuchâtel (MahN) stellt die eigene Sammlung und die Geschichte der Region in einen weltumspannenden Kontext. Unter dem Titel «Mouvements» werden aktuelle Debatten aufgegriffen, historisch kontextualisiert und vermittelt.

Gesucht: Reinigungskraft, Küchenhilfe, Chauffeur. Unzählige Annoncen aus Neuenburger Zeitungen der 1960er-Jahre bedecken die Ausstellungswand; allen gemein der Vermerk «Etrangers exclus» oder «Italiens exclus» – Ausländer oder Italiener ausgeschlossen. Auf der Wand gegenüber zeigen Fotografien Arbeitskräfte, die gezielt im nahen Ausland rekrutiert wurden, etwa von Firmen wie Suchard. Zwischen diesen beiden Wänden – den kompromisslosen Worten des Ausschlusses und den visuellen Zeugnissen der schweizerischen Immigrationspolitik der Nachkriegszeit – manifestiert sich der Diskurs um Einwanderung und Ausgrenzung in der Schweiz. Das Bindeglied zur Gegenwart sind die ebenfalls ausgestellten Ausweise, die in unterschiedlichen Farben den Aufenthaltsstatus eingewanderter Personen angeben. Darunter auch der Status S, der just wenige Wochen nach der Eröffnung anfangs 2022 erstmals eingesetzt wurde.

Spannungsfelder wie dieses gibt es viele in der neuen Dauerausstellung «Mouvements» im Musée d’art et d’histoire de Neuchâtel (MahN). Es geht um Bewegungen von Menschen, Ideen und Konzepten, aber auch von Waren und Objekten. Das MahN hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit einem transdisziplinären Ansatz die Sammlung und die Geschichte der eigenen Region zu erforschen, zu reflektieren und zu vermitteln. Das Resultat: ein gelungenes Panoptikum der Geschichte Neuchâtels und seiner Verbindungen in die Welt.

Koloniales Erbe der Schweiz

Beim Betreten der Ausstellung werden unter einer überdimensionalen zeitgenössischen Lichtinstallation die Sinne geschärft für die Inhalte und Objekte, die die Besucher:innen erwarten: Porträts von 160 Menschen jeglicher Couleur, die sich im Laufe ihres Lebens in Neuchâtel niederliessen oder aber den Kanton verliessen und ihr Leben woanders fortführten; Kampfrüstungen und Waffen aus der historischen Sammlung, die Gemälden und einer Skulptur gegenübergestellt werden; drei «Jaquet-Droz-Automaten» als Zeugnisse höchster Uhrmacherkunst und vieles mehr. Die Bewegung selbst – sei sie mechanisch oder ideell – wird dabei ebenso thematisiert wie das, was sie in menschlichen Biografien bedeutet: zurückbleiben, aufbrechen, ankommen, erinnern, zurückkehren.

Doch das MahN geht noch einen grossen Schritt weiter und nimmt die koloniale Vergangenheit der Schweiz und der Stadt Neuenburg in den Blick. Die Schweiz besass zwar keine Kolonien, war jedoch durchaus Profiteurin des kolonialen Systems: Schweizer Kaufleute waren aktiv am Rohstoff- und Versklavungshandel beteiligt und betrieben unter dem Schutz der Kolonialmächte eigene Plantagen, Schweizer Forscher:innen und Wissenschaftler:innen nahmen an kolonialen Expeditionen teil und Schweizer Söldner waren an der Eroberung und Herrschaftssicherung in verschiedenen Kolonien beteiligt.

Diese kolonialen Verstrickungen der Schweiz finden in Neuchâtel ihren Kumulationspunkt in der Statue David de Purys. 1855 zentral auf der «Place Pury» im Zentrum Neuenburgs errichtet, stellte die bronzene Statue ein Zeichen der Dankbarkeit dar. Dankbarkeit dafür, dass sich der 1786 in Lissabon verstorbene David de Pury als Wohltäter für die Stadt eingesetzt hatte: Der Neuenburger mit preussischem Adelstitel und englischer Staatsbürgerschaft, der als Bankier und Unternehmer den grössten Teil seines Lebens im Ausland verbracht hatte, vermachte einen Grossteil seines Vermögens seiner Heimatstadt Neuenburg. Mit dem Betrag von über 300 000 portugiesischen Cruzados (nach heutiger Schätzung etwa 600 Millionen Franken) wurden symbolträchtige Gebäude finanziert, darunter das Rathaus.

Komplexität transparent vermittelt

Doch das Bild des Wohltäters bekam Risse. Um die Statue entbrannte eine hitzige Debatte. Bereits Ende der 1980er-Jahre wurde auf de Purys wirtschaftliche Verstrickungen mit dem Versklavungshandel aufmerksam gemacht, im Sommer 2020 wurde ein Farbanschlag auf die Statue verübt. Zudem lancierte das «Collectif pour la mémoire» eine Petition mit der Forderung, die Statue zu entfernen. An ihrer Stelle sollte eine Tafel all jener Menschen gedenken, die unter Rassismus und weisser Vorherrschaft litten und leiden.

Dass auch diese aktuelle Entwicklung der Debatte in die Ausstellung integriert werden sollte, war für das Museumsteam unter der Leitung von Chantal Lafontant Vallotton und Antonia Nessi sofort klar – und dies, obwohl das erste Konzept für die neue Dauerausstellung bereits 2017 stand und damit seiner Zeit voraus war. «Es ist wichtig, diese Debatte aus einer historischen Perspektive zu verstehen», erläutert Chantal Lafontant Vallotton, seit 2001 Co-Direktorin des Museums. So werden in der Ausstellung die Routen des transatlantischen Dreieckshandels auf einer Karte dargestellt und eine Übersicht Neuchâtels zeigt all jene Gebäude, die von Familien oder Unternehmen finanziert wurden, die in koloniale Aktivitäten involviert waren. In Interviews (hörbar an der Audiostation, auf dem Smartphone via QR-Code oder via Website) erklären die Wissenschaftler:innen Thomas David, Bouda Etemad, Matthieu Gillabert und Kristina Schulz, wie insbesondere Neuchâtel ins koloniale Unternehmen involviert war, und berichten zudem über den Stand der Forschung, über Hürden und Diskurse. Transparent und klug vermittelt die Ausstellung die komplexe Geschichte.

Vom Tabu zum vieldiskutierten Thema

Als das MahN 2011 zum ersten Mal in einer Ausstellung das Thema der Familien aufgriff, die in den Versklavungshandel involviert waren, waren die Reaktionen zurückhaltend. Chantal Lafontant Vallotton erinnert sich: «Kaum jemand hat darüber gesprochen: Die Leute schienen eher verlegen zu sein.» Dabei sei es ein unumgängliches Thema, betont Lafontant Vallotton: «Es ist heute unverständlich, nichts zu sagen über diese Thematik.»

Zwei Jahre später erschienen zu einem Vortrag zum Thema gerade mal ein gutes Dutzend Leute. Dann jedoch nahm die Bewegung um Aufarbeitung Fahrt auf: 2018 waren es schon fast 150 Personen, die an einer Diskussion teilnahmen. Und heute stellt sich die Stadt Neuchâtel der eigenen Vergangenheit und den Schatten, die die Figur de Purys auf die Stadt wirft.

Mehr Anfang als Ende

Die Auseinandersetzung ist keineswegs abgeschlossen. Aktuell ist in der Stadt Neuenburg ein Audioguide in Entwicklung, der auf einem Stadtrundgang die Spuren der Kolonialgeschichte aufarbeiten wird. Zudem gab es im November 2021 einen Aufruf zur Einreichung von Kunstprojekten rund um die Statue von David de Pury. Vier Einreichungen wurden im März 2022 prämiert, zwei davon werden nun konkretisiert. Das Museum selbst plant neben weiteren Veranstaltungen für kommenden September einen Vortrag des Historikers Pap Ndiaye, Leiter des Pariser Musée de l’histoire de l’immigration.

Das MahN wagt also den Spagat zwischen wissenschaftlichem Diskurs und niederschwelliger Vermittlung für ein breites Publikum. Die Ansätze sind vielversprechend. Bisher sei die Ausstellung positiv aufgenommen worden, berichtet Chantal Lafontant Vallotton, sie habe ein aussergewöhnlich grosses Echo erhalten. Gute Voraussetzungen für die weitere Arbeit – denn die Ausstellung solle ein Ort sein, der sich weiterentwickelt. «Das ist kein Endpunkt.»

Autorin: Katharina Flieger

Ein existentielles Museum für den Menschen des 21. Jahrhunderts

Das Museum H.C. Andersen – ein Ort, an dem sich Wirklichkeit und Märchen begegnen – stellt für die Museumswelt eine absolute Neuheit dar.

Wir leben in schwierigen Zeiten – noch immer geprägt von der Pandemie und aktuell vom Krieg in der Ukraine, aber auch von unserem Alltag mit seinen unzähligen Verpflichtungen und Ortswechseln, Unsicherheit und Stress. Unser Horizont scheint enger zu werden, vorbei sind die Leichtigkeit und Einfachheit, mit denen wir einst Pläne machten. In Zeiten wie diesen brauchen wir besondere Orte, brauchen wir Museen wie das im Sommer 2021 in Odense in Dänemark eröffnete H.C. Andersen Museum. Wer weiss, vielleicht ist es das erste von vielen dieser Art, die noch entstehen werden. Eine Premiere ist es nicht zuletzt, weil es in so enger Zusammenarbeit zwischen dem Architekten und den Museumsplaner:innen entstand, dass die Architektur selbst zum Konzept wurde, zum Teil des Storytellings und der Ausstellung. Das Museumsgebäude ist Behältnis und Inhalt zugleich.

Um den Geist des Projekts zu verstehen, muss man in die Persönlichkeit und das Werk von Hans Christian Andersen eintauchen. Dem bedeutendsten dänischen Schriftsteller, der von 1805 bis 1875 lebte, begegnen die Besucher:innen schon am Eingang des Museums. In einer Tonaufnahme diskutiert er hier mit einer zweiten Stimme, die versucht, seine Biografie zu erzählen. «Ich wurde doch nicht in einem solchen Loch geboren!» Doch, es war ein Loch, in dem Andersen zur Welt kam, das kleine gelbe Haus in der Hans-Jensen-Strasse Nummer 45. Wäre dies nun eine Gedenkstätte, wie wir sie gewohnt sind, so stünden wir jetzt vielleicht im zum Museum gewordenen Geburtshaus des grossen Künstlers, bewahrt und ausgestaltet mit historischen Gegenständen und biografischen Erzählungen. Doch dieses Haus ist etwas vollkommen Neues: ein Ort, der direkt dem Dichter selbst zu entspringen scheint, in dem sich sein Werk und fantastisches Universum manifestieren und ausdrücken, als sei Andersen selbst noch anwesend.

Das Museum wurde mit einem Budget von über 50 Millionen Euro mitten in der Stadt errichtet. Geschaffen wurde es von Kengo Kuma, einem der bedeutendsten japanischen Architekt:innen unserer Zeit. Seit Jahren kritisiert Kuma die Verwendung von Beton und sucht nach Alternativen, er arbeitet mit Holz, Stein, Keramik und Bambus und setzt diese Materialien je nach ihrem emotiven Potenzial und ihren typischen Eigenschaften ein, verbunden mit den Lehren der japanischen Tradition. Wesentlich ist in den Arbeiten von Kengo Kuma die Verwendung des Lichts, mit dem er versucht, ein Gefühl der «räumlichen Unkörperlichkeit» zu schaffen – so auch im H.C. Andersen Museum. Es umfasst ebenerdig und in einem Untergeschoss eine Gesamtfläche von 5.600 Quadratmetern, von denen zwei Drittel unter der Erde liegen, und präsentiert sich nicht so sehr wie ein Museum, sondern eher wie ein grosser Garten, bestehend aus verschiedenen grünen Inseln, mit hohen Hecken, die an Labyrinthe erinnern, mit Teichen, Blumen, Bäumen, Holzstegen und grossen Pavillons aus Glas und Holz, die wie aus der Erde gewachsen scheinen. Alles ist rund und kurvenreich, ohne Ecken und Kanten. «Wir mischen spielerisch Draussen und Drinnen, Natur und Architektur», beschreibt Kreativdirektor Henrik Lübker das Konzept in einem Interview auf der Homepage des Museums. Die Besucher:innen wandeln in einer Welt, die zwischen Wirklichkeit und Märchen angesiedelt ist. In diesem Spiel, dieser Transposition der Ebenen empfängt uns der Garten zu Beginn des Besuchs, spricht unsere Sinne an und bereitet uns darauf vor, die rationale Sphäre zu verlassen und in die Welt der Märchen und Fantasien Andersens einzutauchen.

Synergie zwischen architektonischen Volumen und Geist des Projekts

Henrik Lübker spricht von einem «existentiellen Museum», dessen Ziel es ist, den Menschen einen Ort, ein Universum zu bieten, in dem nichts ist, wie es scheint, und alles, was wir zu wissen und zu kennen glauben, über den Haufen geworfen wird, so dass wir alles neu erleben und erkennen können. Und schon sind wir bei Andersens Märchen, die unsere Fantasie anregen, mit unseren Gewissheiten und Gemeinplätzen spielen, die menschliche Natur untersuchen und Schwächen und Ängste blosslegen, Ehrgeiz und Anmassung, List und Bosheit. Ich denke dabei insbesondere an «Des Königs neue Kleider», «Das hässliche Entlein», «Das Heinzelmännchen beim Speckhöker» und «Der Schatten». Apropos Schatten: In einer der interaktiven Stationen kann man beobachten, wie der eigene Schatten plötzlich ein Eigenleben und verschiedene Formen annimmt, in einer anderen verzaubert uns der Gesang der Meerjungfrauen unter Wasser. In einem der Räume, die mit ihren schön gearbeiteten geometrischen Lichtschächten zum Himmel hin offen sind, kann man sich auf Steine legen und die Himmelskuppel betrachten. Und dann sind da die 20 Matratzen, auf denen die Prinzessin geschlafen hat, und daneben, unter Glas und auf zwei roten Kissen, als handle es sich um ein Schmuckstück, liegt die berühmte Erbse.

Diese perfekte Synergie zwischen den architektonischen Elementen und dem Geist des Projekts wird erweitert durch zwei weitere Akteure, die dazu beigetragen haben, dem Museum eine Form, ein Gesicht und eine Seele zu geben. Zunächst das Studio für Landschaftsarchitektur Masu Planning aus Helsinki und dann die Londoner Agentur Event Communications, die Erlebniswelten entwirft und schon vor dem Architekturentwurf von Kengo Kuma im Spiel war: Diese Agentur erfand die Erzählwelt, durch die Andersens Universum nachgebildet werden kann, und lieferte so die Vorgaben für die architektonische Umsetzung. Heraus kam ein Ausstellungsweg, auf dem jede Passage, jeder Ausblick, jede Kurve und Abzweigung miteinander im Einklang sind. Sie sind zudem Teile der Gesamterzählung dieses Museums, das perfekt entworfen, raffiniert und magisch ist, in dem die Innen- und Aussengärten miteinander verbunden sind und den Geist des Autors und seiner Werke einfangen und wiedergeben. Diese wunderbar unlogische Welt wurde umgesetzt von einem Team aus Kreativen und Technikgenies, preisgekrönten Kunst-, Literatur- und Musikschaffenden sowie Meister:innen des Puppenspiels. Sie alle tobten sich gemeinsam aus mit visuellen Effekten, interaktiven Vorrichtungen, Kinect-Technologie und Ambisonics, die optische Illusionen erzeugen. Binaurale Tonaufnahmen, in 3D kartiert, wurden in den Audioführer eingespeist, so dass man nur den Kopf in die Nähe eines Objekts bringen muss, und schon beginnt es zu sprechen. «Wir möchten den Besucherinnen und Besuchern nicht vorschreiben, was sie hören oder denken sollen, und auch die Narration nicht exzessiv beeinflussen. Unsere Absicht ist es, spontane Emotionen entstehen zu lassen», erläutert der Direktor.

Die menschliche Welt und die natürliche Welt sind eins

In anderen Worten: das Kind in uns wecken, was ja auch wesentlicher Teil von Andersens Ansatz war. Er war ein neugieriger und unermüdlicher Reisender, der gerne zum Besuch eines neuen Landes aufbrach, der stets das Schöne anerkannte, obwohl ihn das Leben anfänglich auf eine harte Probe gestellt hatte. In allen Genres, derer er sich bediente, vom Roman über das Märchen bis zur Lyrik, spüren wir den Mann, der die Augen für die Wirklichkeit öffnete und dennoch nicht die ursprüngliche Unschuld des Empfindens und die Lebensfreude verlor, das Vertrauen in sich selbst und in alle Dinge, die existieren. Andersen sah die Welt der Menschen und die Welt der Natur als Gesamtheit, als eins.

In der Eingangshalle können die Besucher:innen einen Ausstellungsverlauf aus vier Themeninseln und zwölf Stationen auswählen, die bestimmte Momente aus einigen von Andersens Märchen beschreiben. Neben den erwähnten Spezialeffekten gibt es in der Ausstellung übrigens auch 200 Originalartefakte des Autors zu sehen. Zu Beginn, auf der Treppe, geleiten uns einige Zitate Andersens in die Ausstellung: «Wer wäre ich gerne, wenn ich nicht ich wäre? Hans Christian Andersen. Was fürchte ich mehr als alles andere? Mich selbst» oder «Vergesst an glücklichen Tagen den Dichter nicht». Dieser Wunsch wurde erfüllt. Nun bleibt die Hoffnung, dass Odense, die drittgrösste Stadt Dänemarks, in Zukunft mehr Tourist:innen anziehen kann – mehr als die 100.000, die vor der Pandemie anreisten und von denen 70 Prozent aus dem Ausland kamen, vor allem aus Grossbritannien und China.

Der Garten, der auch als grüne Erholungsoase in der Stadt gedacht ist, steht dem Publikum immer offen. Auch dies spiegelt die Botschaft wider, die Andersen an seine Leserschaft richtete und die im 21. Jahrhundert aktueller denn je ist: Wir können unsere Träume auch im Alltag finden und leben.

Autorin: Natascha Fioretti