Die Schweizer Museumszeitschrift

Museumszeitschrift Nr. 17

Die 17. Ausgabe der Schweizer Museumszeitschrift befasst sich mit der Vielfältigkeit der Museumslandschaft in verschiedener Hinsicht: Der Arbeit kleiner Kulturhäuser in Schweizer Bergregionen gegenüber steht ein Blick auf das gigantische Unternehmen Grand Egyptian Museum. Beleuchtet werden zudem Ansätze zu Diversität und deren Potenzial in den Schweizer Museen.

Museumszeitschrift Nr. 17

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Die Schweizer Museumszeitschrift ist das Magazin für die Mitglieder von VMS und ICOM Schweiz. Sie informiert über die Aktivitäten der Verbände und die aktuelle Kulturpolitik, stellt ausgewählte Fachliteratur vor und wirft in Bildstrecken einen Blick hinter die Kulissen der Museen in der Schweiz. Die Zeitschrift erscheint zweimal jährlich in einer mehrsprachigen Ausgabe. Die wichtigsten Artikel sind in ihren Übersetzungen auf museums.ch verfügbar.

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Übersetzungen

Gespräch von Berg zu Berg

Peter Langenegger und Anne-Louise Joël sprechen über die Herausforderung, eine kulturelle Institution in den Bergen zu führen.

Das Museum d’Engiadina Bassa befindet sich unmittelbar am Dorfplatz im historischen Kern von Scuol. Die Casa d’Angel steht im Herzen von Lumbrein in der Surselva. Scuol und Lumbrein liegen in Graubünden in geografisch entgegengesetzten Richtungen. Und doch gibt es viele Parallelen zwischen den beiden Kulturhäusern, wie Peter Langenegger und Anne-Louise Joël während ihres Zoom-Gesprächs feststellen.

Wie würden Sie Ihre Kulturinstitution beschreiben?

Peter Langenegger: Das Museum d’Engiadina Bassa ist ein typisches Engadinerhaus aus dem 17. Jahrhundert. Gäste und Einheimische haben die Möglichkeit, darin mehrere original eingerichtete Arvenstuben aus verschiedenen Epochen zu besichtigen. Die «stüva da Lavin» von 1550 ist die älteste öffentlich zugängliche Stube im Engadin. Das Haus beheimatet aber auch viele unerwartete Kulturschätze, zum Beispiel die erste romanische Bibel von 1679 oder die vom Museumsgründer Men Rauch geschenkte Bibliothek. Auch das Gebäude an sich ist eindrücklich. Es wird «la clastra» genannt. Dies, weil Eberhard, Herr von Tarasp, Ende des 11. Jahrhunderts in Scuol Sot ein Kloster errichten liess. Die Grundmauern sind bis heute erhalten.

Anne-Louise Joël: Die Casa d’Angel ist bestimmt 400 Jahre alt. Sie wurde vom Architekten Peter Zumthor renoviert. Wir haben viele Besucherinnen und Besucher, die wegen seiner Architektur kommen. Die Casa d’Angel ist kein Museum, sondern ein Kulturhaus. Wir organisieren Referate oder kleine Konzerte und gestalten einmal im Jahr eine Ausstellung. Aktuell zeigen wir Fotografien aus der Surselva aus der Zeit von 1900 bis 1950. Wir haben Fotografien reproduzieren lassen, die das bäuerliche Alltagsleben im Tal zeigen. Man sieht Menschen, Landwirtschaftsgeräte, Tiere, Bauten. Dieses Jahr haben wir mit dem Museum Regiunal Surselva in Ilanz und mit der Fotostiftung Graubünden in Chur zusammengearbeitet. Somit kann man eine kleine Tour durch drei Häuser machen und Fotografien anschauen.

Was ist Ihr Lieblingsobjekt im Haus?

Langenegger: Es gibt so viele, dass es mir schwerfällt, ein einzelnes Objekt zu nennen. Besonders ist ein Dreirad aus der Zeit des Bädertourismus im Unterengadin, aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Rad gehörte einem Juwelier aus Zernez, der mit diesem Gefährt über den Ofenpass zu seiner Kundschaft in Val Müstair fuhr.

Joël: In der Casa d’Angel gibt es keine Sammlung. Permanent ausgestellt ist nur die grosse Kristallgruppe im ehemaligen Archivraum beim Eingang. Sie ist rund 950 Kilo schwer und wurde im Jahr 2000 am Berg gegenüber gefunden. Der Verein Pro Lumerins hat dem Strahler die Gruppe abgekauft und hier als Leihgabe deponiert. Wundersam ist, wie sie ins Archiv gekommen ist, denn sie passt gar nicht durch die Türe.

Wie kann man als kleine Kulturinstitution für das Publikum attraktiv bleiben?

Langenegger: Unser Museum wurde 1956 gegründet und in den Statuten wurde festgehalten, dass das Museum die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft im Auge behalten sollte. Mit unseren Sonderausstellungen versuchen wir dies zu berücksichtigen. So haben wir eine Ausstellung über Gesang im Unterengadin, über die Rhätische Bahn, über die Baukultur in der Region oder über den Architekten Rudolf Olgiati gemacht. Begleitend dazu gibt es immer Veranstaltungen. Mit unseren Sonderausstellungen wollen wir einen nachhaltigen Effekt und einen Mehrwert erzeugen. So hat sich dank der Ausstellung zu Olgiati eine Gemeinschaft aus den Hauseigentümerinnen und -eigentümern gebildet, die sich nun dafür einsetzt, seine Häuser unter Schutz zu stellen. Aktuell zeigen wir grossformatige Fotografien des bekannten Schweizer Fotografen Peter Ammon. Im Gründungsjahr unseres Museums hat er das bäuerliche Leben im Unterengadin fotografiert.

Joël: Wir haben jedes Jahr eine neue Ausstellung. Bei uns im Tal gibt es viele Zweitwohnungsbesitzerinnen und -besitzer und diese sind unser Hauptpublikum. Sie kommen immer wieder, um zu schauen, was es Neues gibt. Dieses Jahr blicken wir zurück, wir hatten aber auch schon eine Ausstellung mit dem Titel «futur», bei der es um moderne, experimentelle Kunst ging. Da hatten wir Kunstschaffende eingeladen, gemeinsam mit den Einheimischen neue Kunstwerke zu erarbeiten. Wir versuchen stets, die Leute vom Tal zu motivieren, selbst teilzunehmen, damit sie die Angst verlieren, ins Museum zu gehen. Wir wollen ein Haus für alle sein und immer auch relevant für die Menschen hier. Ein Erfolg war die Steinausstellung von 2017, als jeder und jede einen Stein mitbringen und erzählen durfte, was dieser Stein für ihn oder sie bedeutet. Die Steine haben wir mit der dazugehörigen Geschichte ausgestellt. Rund hundert Personen aus dem Tal haben einen Stein gebracht und ihn später mit ihren Familien besichtigt. Uns wurde viel Sympathie für diese Aktion entgegengebracht.

Mit welchen Herausforderungen kämpfen Kulturinstitutionen in Bergregionen? 

Langenegger: Es gibt verschiedene Herausforderungen. Eine davon ist die Professionalisierung der Museen. Mein Vorgänger hat das Museum während mehr als 30 Jahren präsidiert und etwa viereinhalb Tage Arbeit im Jahr dafür investiert. Ich arbeite viereinhalb Tage schon nur während eines Monats. Wollen wir eine Chance haben und wichtige Sachen zeigen, müssen wir professioneller werden. Wir wurden vor vier Jahren als Museum von regionaler Bedeutung klassifiziert und erhalten jetzt Unterstützungsbeiträge vom Kanton Graubünden. Gemäss unseren Statuten müssten wir aber Fronarbeit leisten, das heisst: keine Entlohnung für den Vorstand. Dabei investieren wir heute viel mehr Zeit als 1956. Die grosse Herausforderung ist, Leute zu finden, die ehrenamtliche Aufgaben übernehmen. Aber auch, die einheimische Bevölkerung von der Bedeutung der Kultur für die Identität einer Region zu überzeugen. Wir sind zudem ein Verein und müssen das Gebäude selbst erhalten und Investitionen tätigen.

Joël: Wir sind mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert. Die Professionalisierung ist wirklich ein grosses Thema. Ich habe 2014 mit dem Aufbau der Casa d’Angel begonnen. Angefangen habe ich mit einem Pensum von 30 Prozent, inzwischen sind es 60 Prozent, zusätzlich sind heute eine Sekretärin und ein Projektmitarbeiter im Teilpensum angestellt. Auch die Finanzierung ist eine Herausforderung. Zum Glück haben wir mittlerweile gute Leistungsvereinbarungen und gute Bedingungen mit der Hauseigentümerin, der Gemeinde. Aber es ist nicht einfach, Leute zu finden, die bei der Aufsicht oder beim Vorbereiten der Veranstaltungen mithelfen. Im vergangenen Sommer hatten wir fast zu viel Publikum. Das Haus war zu klein und wir konnten nur zehn Personen aufs Mal Einlass gewähren. Aber das ist ein Luxusproblem.

Die Digitalisierung gewinnt zunehmend an Bedeutung. Wie digital ist Ihr Angebot?

Langenegger: Für uns ist diese Investition zu gross. Aber Digitalisierung ist natürlich ein Thema. Unsere Inventarisierung läuft digital, unser Kassensystem ebenfalls und natürlich haben wir eine Internetseite. Im Vorstand haben wir die Frage behandelt, wie digital wir werden wollen. Wir wollen uns sicher an der kantonalen Kulturplattform beteiligen. Wir haben auch einen Multimediaraum, aber Audioguides wollen wir nicht einführen, denn wir wollen den persönlichen Kontakt aufrechterhalten. Eine Führung von Mensch zu Mensch ist etwas anderes als ein Audioguide. Die Leute schätzen das und deswegen bleiben wir analog.

Joël: Ja, ich denke ähnlich wie Peter. Einerseits bin ich selbst kein grosser Fan von Audioguides. Der zwischenmenschliche Kontakt ist wichtig. Die Personen, die Aufsicht machen, sind Einheimische, sie kennen alles und können sogar noch als «Tourismusbüro» fungieren. Unser Publikum schätzt das individuelle Erlebnis und kommt gerne wieder. Mit einer neuen Ausstellung pro Jahr würde es auch zu teuer werden, jedes Mal einen neuen Audioguide zu erstellen. Wir sind nur ein kleines Haus und müssen uns auf unsere Stärken konzentrieren.

Autorin: Fadrina Hofmann

Die Welt erwartet ein Weltwunder

Das Grand Egyptian Museum bei Kairo wird zum ersten Mal alle 5398 Objekte aus Tutanchamuns Grab präsentieren – unter anderem.

Die nächste Welle weltweiter Ägyptomanie steht kurz bevor. Sie dürfte höher sein als alle bisherigen. Der Auslöser ist das Grand Egyptian Museum, kurz GEM genannt. Dieses Juwel misst sich am Weltwunder, dem es direkt gegenüber gebaut wird, den grossen Pyramiden von Gizeh bei Kairo. Das Haus streckt sich weit aus, in Raum und Zeit: Auf einer Fläche von 100’000 Quadratmetern umfasst es rund 50’000 Objekte und vermittelt über 3000 Jahre Geschichte. Nach seiner Eröffnung wird es das grösste archäologische Museum der Welt sein, das sich einer einzigen Zivilisation widmet: dem alten Ägypten.

Der Herr des Hauses ist Tutanchamun. Bald 100 Jahre ist es her, dass Howard Carter 1922 in Oberägypten dessen reich gefülltes Pharaonengrab geborgen hat. Tutanchamuns Totenmaske ging seither mehrere Male um die Welt. Ein Objekt mit Kultstatus, vergleichbar mit der Mona Lisa. Doch viele weitere Grabbeigaben haben es bisher aus Platzmangel noch nicht mal aus dem Keller des alten Ägyptischen Museums am Kairoer Tahrir-Platz geschafft. Nun werden sie alle, vom Streitwagen bis zur Scherbe, zum ersten Mal komplett präsentiert. Gemäss dem prominenten Archäologen Zahi Hawass sind es exakt 5398 Tutanchamun-Objekte – wie alle Zahlen rund um dieses Projekt ändert sich jedoch auch diese je nach Zeitpunkt und Auskunftsperson. Im neuen Labor gleich neben dem Museum ist jedes Stück nach aktuellem Forschungsstand restauriert worden.

Genügend Unterhosen fürs Jenseits 

Die Haupthalle des Museums ist so gigantisch, dass darin Flugzeuge Platz finden würden. Beim Eingang begrüsst ein elf Meter hoher Granit-Ramses die Besucherinnen und Besucher. Danach geht es über eine monumentale Treppe vorbei an weiteren Kolossalstatuen. Hier kämen sie in einem ihnen angemessenen Raum zur Geltung, sagt der Ägyptologe Tarek Tawfik, der das GEM bis vor Kurzem als Generaldirektor geleitet hat und weiterhin in dessen Beirat tätig ist. «So kann man sich vorstellen, wie sie einst in den Tempeln oder unter freiem Himmel gewirkt haben.» Die Figuren lassen sich von sämtlichen Seiten betrachten, sogar von oben durch eine darüber schwebende, gläserne Brücke. In einem Fall sogar von unten: Ein Obelisk hängt an einem Seil, sodass man an seiner Unterseite Ramses’ Namen erkennen kann. Zum ersten Mal seit 3300 Jahren.

Wer oben angekommen ist und rechts abbiegt, gelangt direkt zu Tutanchamun. Was gibt es bei ihm Neues zu entdecken? «Die Kleidung!», antwortet Tarek Tawfik prompt. Diese sei im alten Museum kaum zur Geltung gekommen. «Dieser Stoff war an seinem Körper. Das Publikum kann ihm also über die Kleidung so nahe kommen wie nie zuvor. Auch seine goldenen Sandalen sind beeindruckend. Sie waren in äusserst schlechter Verfassung und sind auf Weltklasseniveau restauriert worden.» Dem Pharao wurde vor 3324 Jahren eine stattliche Garderobe mitgegeben. Er wird sich nicht mit häufigen Waschtagen plagen müssen: Allein 300 Unterhosen sind im Koffer fürs Jenseits eingepackt.

Dieses Kulturerbe der Menschheit ist laut Tarek Tawfik endlich in jeder Hinsicht sicher: vor Vandalismus, vor Raub und vor dem Zahn der Zeit. Sämtliche Objekte – 25’000 ausgestellte sowie 25’000 im Magazin eingestellte – würden nun konservatorisch betreut und nötigenfalls restauriert. Ausserdem habe das Museum noch Platz für doppelt so viele Fundstücke, erklärt Tawfik. Bei dem Tempo, in dem seit einigen Jahren Neues ausgegraben wird, erscheint das sehr sinnvoll.

Der Nationalstolz ist stärker als der Hunger

Im Januar 2002 legte der damalige Präsident Husni Mubarak den Grundstein. Neun Jahre später kam die Revolution – und nun Corona. Die Bauzeit und die anfänglich geschätzten Kosten haben sich zwischenzeitlich verdoppelt: auf 1,1 Milliarden Dollar, wie Tarek Tawfik sagt. Dies, obschon die vom irischen Architekturbüro Heneghan Peng konzipierte kilometerlange Hauptfassade aus lichtdurchlässigem Onyx-Stein einer billigeren Eigenvariante aus Glas weichen musste.

Die Kosten sind gewaltig, insbesondere für ein Land, in dem gut ein Drittel der 100-Millionen-Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt. Doch das Projekt sei im Gegensatz zu vielen anderen nie öffentlich kritisiert worden, so Tawfik. Im Gegenteil: Während der Ausschreitungen auf dem Tahrir-Platz stellten sich Menschenketten schützend vor das dortige alte Museum. Mit dem Arabischen Frühling sei das Interesse an diesen Schätzen aufgeblüht. «Die Menschen wollen nun das, was sie gerettet haben, sehen und verstehen», sagt Tarek Tawfik, «man hat gemerkt, dass das etwas Besonderes ist, ein Alleinstellungsmerkmal Ägyptens.» Es würden seither mehr einheimische Besucherinnen und Besucher in Ägyptens grossen Museen gezählt.

Der Nationalstolz ist stärker als der Hunger, mächtiger als die Religion. Sogar die Frommsten im Land verstünden, dass dies ihre Wurzeln seien, meint Tawfik – man sehe keine Verführungsgefahr, die von diesen heidnischen Artefakten ausgehen könnte. Aber auch die Ärmsten sind stolz auf ihr Erbe – undu hoffen, dass es sich gewinnbringend einsetzen lässt. Fünf Millionen Besucherinnen und Besucher jährlich erwartet das Grand Egyptian Museum. Es soll den Tourismus im ganzen Land ankurbeln. Tarek Tawfik glaubt, dass Corona gerade «die Reisesucht» verstärke. Und der neue, nahe gelegene Sphinx-Flughafen soll den Zugang erleichtern.

Szenografie: leicht, vergnüglich und respektvoll

«Die Ägypterinnen und Ägypter wünschen sich, dass ihrem Erbe angemessen Respekt gezollt wird.» Diesen Eindruck hat Shirin Brückner gewonnen, die mit ihrem in Stuttgart ansässigen Atelier Brückner für die Ausstellungsgestaltung zuständig ist. Ihr Ziel sei es, die Objekte einem breiten Publikum leicht, vergnüglich und respektvoll zugänglich zu machen. Die Gegenstände würden so inszeniert, dass sie eine Geschichte erzählen. Im Falle Tutanchamuns den Weg von der Geburt über das kurze Leben bis ins viel wichtigere, da ewig dauernde, Jenseits, stets der Sonne entgegen: «Das wesentliche Gestaltungsmerkmal ist das Licht.» Die Szenografiefachleute machen zudem mit einer massstabs-getreuen Kopie des Grabes deutlich, dass die 5398 Dinge, die sie nun auf 7000 Quadratmetern ausbreiten, einst in einem 30 Quadratmeter engen Versteck übereinandergestapelt lagen.

Shirin Brückner, Jahrgang 1967, hat noch studiert, als der Architekturwettbewerb für das Grand Egyptian Museum ausgeschrieben wurde. «Die Möglichkeit, einmal Inhalte und Exponate von diesem Stellenwert auszustellen, hätte ich mir nie träumen lassen. Es ist eine einmalige Chance, ein Weltmuseum mitzugestalten.» Sie sei dankbar, an diesem Jahrhundertprojekt beteiligt zu sein, sagt Shirin Brückner. Trotzdem würde sie sich wünschen, «dass Weltprojekte auch schneller umgesetzt werden – und vielleicht im Massstab nicht ganz so gross sind».

Dieser Hang zum Übermass wird in Ägypten seit jeher gelebt. Einen Rekord stellt das Museum allerdings auch in Bezug auf die zahlreichen angekündigten und wieder verschobenen Eröffnungstermine auf. Auch der zuletzt für diesen Sommer geplante Termin wird wieder nicht eingehalten – jetzt ist von Ende dieses oder Anfang des nächsten Jahres die Rede. Tawfik hofft auf Letzteres: «Dann kann man es mit dem 100-Jahr-Jubiläum der Entdeckung von Tutanchamuns Grab verbinden.» Der Druck wächst. «Die Welt ist in Erwartung dieses Museums», sagt Tarek Tawfik. «Man will sehen, was Ägypten über die letzten 20 Jahre gebaut hat, will sehen, was man noch nicht gesehen hat.»

Autorin: Susanna Petrin, freie Journalistin

Diversität und Inklusion in den schweizerischen Museen

Die Gesellschaft entwickelt sich weiter und die Museen müssen folgen: verschiedene Wege, die Kultur repräsentativer und die Institutionen zugänglicher zu machen.

Stellen Sie sich vor, Sie betreten einen Saal voller Ausstellungsobjekte und können unter den Künstlern keinen entdecken, der wie Sie ist. Oder Sie können schlicht und ergreifend die Schönheit der Werke um Sie herum nicht erleben. Wie würden Sie sich fühlen?

«Die Museen müssen die Herausforderung annehmen, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, auch wenn diese Aufgabe immer komplexer wird», meint Seraina Rohrer, Leiterin der Abteilung Innovation & Gesellschaft bei Pro Helvetia. «Sie müssen sich an die Gesellschaft im Ganzen richten, nicht nur an einzelne Gruppen». Eine Studie von SWI swissinfo.ch und RTS vom Juni 2019 zeigte jedoch, dass nur ein Viertel der zwischen 2008 und 2018 in den Kunstmuseen organisierten temporären Ausstellungen weiblichen Künstlern gewidmet war. Und nur 35 Prozent der Museen sind laut der Website des Verbands der Museen der Schweiz für Menschen im Rollstuhl in allen Teilen zugänglich.

Man kann diese Zahlen zum Teil damit begründen, dass Frauen in der Geschichte lange von der Kunstwelt ausgeschlossen wurden und dass viele Museen in historischen Gebäuden untergebracht sind, doch es bleibt Tatsache, dass das Potenzial im Hinblick auf Diversität und Inklusion noch lange nicht ausgeschöpft ist. Ausserdem verdienen neben Geschlecht und Behinderung auch die verschiedenen Migrationshintergründe und die sozialen Schichten Beachtung, sowohl bezüglich der Ausstellungen als auch des Personals der Institutionen.

Die ursprünglich als intellektuelle Brennpunkte entstandenen Museen, die daher einst nur einem ausgewählten Publikum zugängig waren, öffnen heute ihre Pforten für alle. «Das Museum muss ein Forum sein, ein Ort des gesellschaftlichen Austauschs, wo sich Menschen begegnen und über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nachdenken können», so Katrin Rieder, Mitinitiatorin des Projekts Multaka, das sich für den Einbezug der Sichtweise von Menschen mit Migrationshintergrund in den Museen einsetzt.

Verschiedene Wege, neue Gesichtspunkte 

Das Projekt Multaka wurde 2019 im Bernischen Historischen Museum lanciert und bildete zehn Personen mit Migrationshintergrund zu Museumsguides aus. «Wir wählten Menschen aus, die seit weniger als fünf Jahren in der Schweiz lebten und schon gut Deutsch sprachen», erklärt die Co-Leiterin des Projekts. «Auch auf eine gute Mischung der beiden Geschlechter, der verschiedenen Altersstufen und Herkunftsländer haben wir geachtet.» So führen nun Syam, Halima und Farhad die Besucher und Besucherinnen von Saal zu Saal und diskutieren mit dem Publikum anhand von Ausstellungsobjekten ihre persönliche Sichtweise und erzählen über ihre Erfahrung als Geflüchtete. Heute sind die von Multaka ausgebildeten Guides fest am Historischen Museum angestellt.

Doch das Ziel dieses Vereins, der Mitglied eines internationalen, auch in Deutschland, Grossbritannien und Italien aktiven Netzwerks ist, besteht vor allem darin, einen dauerhaften Wandel auf institutioneller Ebene zu erreichen. «Ein Projekt kann jeden Moment eingestellt werden. Wir müssen daher vielmehr eine Langzeitstrategie entwickeln, die das ganze Museum einbezieht», unterstreicht Katrin Rieder. Das Museum für Kommunikation in Bern nimmt aktuell an der zweiten Phase des Projekts teil, in der eine Diversitätsstrategie erarbeitet wird, die Ausstellungen, permanente Sammlungen, Kommunikation und Personal des Museums betrifft.

Neben der Beachtung der gesellschaftlichen Diversität in den Ausstellungen und beim Personal sollte die Inklusion auch über eine verbesserte Zugänglichkeit der Museen selbst erlangt werden. Der Dachverband der Interessenverbände der Schweizer Kulturinstitutionen Cultura stellt fest, dass «die hohen Eintrittspreise das grösste Hindernis bei der kulturellen Partizipation von Geflüchteten und Asylbewerbern und -bewerberinnen darstellen». Warum nicht gleich an spezifische Vermittlungsprogramme denken, wie zum Beispiel «Die Reise» des Museo Vincenzo Vela im Tessin. Hier können unbegleitete Minderjährige, die Asyl beantragt haben, ihr eigenes Herbarium erschaffen, indem sie in einem der Teilhabe und Integration gewidmeten Umfeld neue Wörter erlernen.

Der Mehrwert der Inklusion 

Die Zugänglichkeit der Museen ist auch für Menschen mit Behinderung eine Frage von zentraler Bedeutung. «Die Schweiz hat das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet, und doch wird es viel zu selten umgesetzt», stellt Nicole Grieve fest, die für die französische Schweiz Verantwortliche der Fachstelle «Kultur inklusiv» von Pro Infirmis. «Das Übereinkommen der UNO legt fest, dass allen das Recht auf Inklusion und Teilhabe zukommt, unabhängig von Kapazitäten und Beschränkungen und ohne von der Gesellschaft auferlegte Hindernisse.»

Im Jahr 2014 als Pilotprojekt begonnen, unterstützt und begleitet «Kultur inklusiv» die Kulturinstitutionen, die sich für die Entwicklung der Inklusion von Menschen mit Behinderung einsetzen. «Wenn wir kontaktiert werden, legen wir gemeinsam die Massnahmen fest, die für die Kulturinstitution Sinn haben und die dann in der Folge umgesetzt und konsolidiert werden», erklärt Nicole Grieve. Die Institutionen erhalten ein Label, das ihr Engagement für eine bessere Inklusion in fünf Bereichen belegt: kulturelles Angebot, inhaltlicher Zugang, baulicher Zugang, Arbeitsangebote und Kommunikation.

Heute hat «Kultur inklusiv» 77 Labelpartner. Da Qualität vor Quantität geht, ist der Fachstelle die Schaffung von dauerhaften Partnerschaften wichtig. «Als erstes muss man Verbindungen zwischen der Kulturinstitution und dem Netzwerk der Menschen mit Behinderung in der jeweiligen Stadt oder Region schaffen», unterstreicht Grieve. «Nur die direkte Zusammenarbeit mit den betroffenen Personen ermöglicht es nämlich, eine geeignete Strategie zu entwickeln».

Neben dem Mehrwert, den die Inklusion von neuen Blickwinkeln und Aufmerksamkeiten auf gesellschaftlicher Ebene bringt, können die für ein Publikum mit Behinderung gedachten Einrichtungen auch die Neugier des gesamten Publikums wecken. Die ausgestellten Werke über Sinne zu erfahren, die man normalerweise nicht einsetzt, bietet nämlich ein neues Kulturerlebnis.

Das Museum als Spiegel seiner Zeit

Laut der Definition des Internationalen Museumsrates sind Museen Institutionen, «die nicht gewinnorientiert arbeiten und im Dienst der Gesellschaft und ihrer Entwicklung stehen». Der gesamten Gesellschaft die Teilnahme zu ermöglichen und das Gefühl zu geben, dass sie dazugehört, ist heute also eine Selbstverständlichkeit. In diesem Sinn organisiert Pro Helvetia den ersten Workshop «Start Diversität»: zwei Kurstage, bei denen unter anderem das Thema der Chancengleichheit behandelt wird.

«Nach den Tandems, bei denen in den letzten beiden Jahren Fachleute für Diversität Institutionen im Prozess struktureller Veränderung unterstützten, haben wir erkannt, dass die Frage der Diversität sehr komplex ist und eine Begleitung erfordert», erklärt Seraina Rohrer von Pro Helvetia. Der Workshop richtet sich an Institutionen, die gerade einen Reflexionsprozess in Gang setzen und etwas Anschub brauchen, um ihre Strategien auf den Weg zu bringen.

Für die Gesellschaft der Zukunft

Die in letzter Zeit häufiger auftretenden Anprangerungen von Sexismus und Rassismus betreffen alle Bereiche, auch die Kultur, in und ausserhalb der Grenzen der Schweiz. Im Januar schuf das Musée des beaux-arts du Canada zwei Arbeitsstellen, um die Diversität zu steigern. Eingestellt wurden eine stellvertretende Präsidentin für strategische Veränderung und Inklusion und eine erste stellvertretende Präsidentin für Personen, Kultur und Zugehörigkeit. In England ist im Rahmen des Programms Diversity Matters vorgesehen, dass jährliche Veranstaltungen die besten Praktiken in den Museen im Bereich der Integration und der Diversität präsentieren.

Die Reflexionen und Veränderungen brauchen Geld und vor allem Zeit. Doch wie das Network of European Museum Organisations meint, «bleibt das Museum für alle wohl eine Utopie, doch das Museum für so viele wie möglich muss Wirklichkeit werden». Weil die Museen sicherlich ein Fenster auf die Vergangenheit sind, aber auch, vielleicht sogar vor allem, eine Tür in die Zukunft. Daher ist es so wichtig, die verschiedenen Facetten einer Gesellschaft mit einzubeziehen, und zwar auf beiden Seiten der roten Kordel.

Autorin: Céline Stegmüller, Journalistin

Ein gut gemeintes Projekt ist nicht gut genug

Museen bieten als Spielfelder Möglichkeiten, Fragen von kultureller Teilhabe und Demokratie neu zu verhandeln, sagt Ivana Pilić. Die freie Kuratorin und Kulturwissenschaftlerin leitet für die Schweizer Kultur¬stiftung Pro Helvetia Workshops zu Diversität in Kulturbetrieben.

Ivana Pilić ist Co-Kuratorin von «D/Arts – Pro¬jektbüro für Diversität und urbanen Dialog» und promoviert im Schwerpunkt Wissenschaft und Kunst an der Universität Salzburg und des Mozarteums zu diskriminierungskritischen Kunstpraxen. Die Kulturwissenschaftlerin berät Kulturinstitutionen und -politik im Bereich Diversity and Arts. Unter anderem leitet sie im Rahmen von Projekten der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia Workshops zu dem Thema. Im März 2021 hat sie gemeinsam mit Anne Wiederhold die zweite Auflage des Buchs «Kunstpraxis in der Migrationsgesellschaft» herausgegeben. Im Interview erklärt sie, welche spezifischen Herausforderungen sich für Museen stellen.

Katharina Flieger: Frau Pilić, Sie unterstützen Kulturinstitutionen in Fragen der Diversität und Chancengleichheit. Sind Kulturbetriebe für dieses Thema empfänglicher als Betriebe anderer Branchen?

Ivana Pilić: Die Kulturszene ist eine internationale Szene, was eine gute Ausgangslage ist. Doch es bringt nichts, wenn Kulturbetriebe bloss auf internationale Kulturproduzentinnen und -produzenten fokussieren. Es geht auch um die Heterogenität der lokalen Bevölkerung – die soll sich in einer Institution – im Programm, im Personal und im Publikum – wiederfinden.

KF: Mit dem Begriff Diversity, oft übersetzt mit Vielfalt, wird nicht überall dasselbe gemeint. Was verstehen Sie unter Diversität?

IP: Ich verwende einen kritischen Diversitätsbegriff. Das heisst, dass ich mich nicht damit begnüge, Vielfalt als Bereicherung zu verstehen, sondern dass ich immer auch die diskriminierenden Strukturen in den Institutionen selbst anschaue. Darüber hinaus bedeutet es, nicht bloss auf migrationsbedingte Vielfalt zu fokussieren, sondern andere Kategorien miteinzubeziehen. Häufig wird über Menschen gesprochen, die aus anderen sozialen Milieus kommen – was jedoch zu einer Migrationsfrage gemacht wird. Selbstverständlich überschneiden sich die Kategorien. Aber in der oberflächlichen Auseinandersetzung wird – obwohl nicht beabsichtigt – rasch nach dem «Migrationsanderen» gesucht.

KF: Wie kommt es dazu?

IP: Dies geschieht, weil man sich nicht genau genug überlegt, welche Zielgruppe im Fokus stehen soll und was diese ausmacht. Aus einer Position der gesellschaftlichen Mehrheit heraus wird zu sehr in Schubladen gedacht. Wird beispielsweise die türkische Community imaginiert, stellt man sich diese oft als kulturferne Gruppe vor. Dass es darunter aber auch Kunstschaffende, Akademikerinnen und Akademiker gibt, geht oft vergessen. Fruchtbarer wäre es zu schauen, welche Diskriminierungen es hinsichtlich unterschiedlicher sozialer Gruppen gibt. Je vielfältiger Diskriminierung verstanden wird, desto einfacher fällt es, Massnahmen zu entwickeln. Ich plädiere für eine sorgfältige Analyse. Zuerst muss man schauen: Wer lebt da in meiner Stadt, wer interessiert mich? Jüngst gab es geradezu einen Hype um Projekte mit Geflüchteten. Doch oft geben sich Kulturinstitutionen bunt und vielfältig, ohne die eigenen diskriminierenden Strukturen anzuschauen. So entstehen feigenblattartige Projekte oder bloss oberflächliche Neuerungen, die das Konzept von Diversität schwächen und das eigentliche Ziel entwerten: mehr Teilhabe unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen an der kulturellen Bedeutungsproduktion zu fördern.

KF: Was bedeutet dies spezifisch für Museen?

IP: Museen kommt eine spezielle Rolle zu, da hier gesellschaftliche Geschichtsschreibung stattfinden kann. Sie können aber auch als Spielfeld verstanden werden, um kulturelle Teilhabe zu ermöglichen oder Demokratie neu zu verhandeln. Der Kulturbereich bietet Möglichkeiten, zu experimentieren und ein neues «Wir» zu erproben. Hier haben wir die Freiheit zu sagen: «Das ist unsere Gesellschaft und so kann sie ausschauen.» Ich glaube, dass gerade künstlerische Positionen einen Beitrag leisten können zu einer vielfältigeren Gesellschaft. Museen könnten aus einer Vorreiterposition heraus zeigen, was es heisst, mehrsprachig, vielfältig und divers zu sein. Gleichzeitig ist der Kulturbereich jedoch ein sehr homogener und elitärer Bereich – dies gilt es zu bearbeiten und zu verändern.

KF: Was bräuchte es, damit Museen diese Vorreiterrolle ausfüllen können?

IP: In Museen gibt es häufig temporäre Projekte, doch es stellt sich die Frage, was danach passiert. Wie kann man die Zielgruppe halten, wie bleibt der Raum für sie zugänglich? Wer sich zukunftsweisend verändern möchte, sollte sich mit der eigenen Institution beschäftigen und die Ressourcen prüfen. Dabei gilt es, sich offen einzugestehen, dass notwendige Kompetenzen im eigenen Haus nicht vorhanden sind und man Leute dazuholen muss, die sich schon lange mit der Thematik beschäftigen oder etwa andere Sprachkenntnisse besitzen. Danach können Projekte und Massnahmen geplant werden. Ein gut gemeintes Projekt ist nicht gut genug. In unserer Arbeit ist ein transformativer Ansatz wichtig: sich strukturell verändern, sich in die Rolle der Lernenden begeben, Dinge ausprobieren. Das braucht Zeit.

Autorin: Katharina Flieger, Redakteurin Schweizer Museumszeitschrift