Die Schweizer Museumszeitschrift

Museumszeitschrift Nr. 15

Die 15. Ausgabe der Schweizer Museumszeitschrift behandelt schwerpunktmässig die Digitalisierung in den Museen. Ausserdem werden mit der «Plateforme 10» und dem «War Childhood Museum» zwei spannende Museumsprojekte vorgestellt.

Museumszeitschrift Nr. 15

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Die Schweizer Museumszeitschrift ist das Magazin für die Mitglieder von VMS und ICOM Schweiz. Sie informiert über die Aktivitäten der Verbände und die aktuelle Kulturpolitik, stellt ausgewählte Fachliteratur vor und wirft in Bildstrecken einen Blick hinter die Kulissen der Museen in der Schweiz. Die Zeitschrift erscheint zweimal jährlich in einer mehrsprachigen Ausgabe. Die wichtigsten Artikel sind in ihren Übersetzungen auf museums.ch verfügbar.

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Übersetzungen

Drei Museen, drei Geschichten, eine Marke

Bernard Fibicher, Tatyana Franck und Chantal Prod’Hom haben mit uns über den Hintergrund des Projektes Plateforme 10 gesprochen.

Das Musée cantonal des Beaux-Arts (MCBA) in Lausanne öffnete am 5. Oktober 2019 auf dem Gelände des ehemaligen Lokomotivendepots der SBB das neue, von den Architekten Barozzi und Veiga entworfene und Plateforme 10 getaufte Gebäude. Ende 2021 werden an diesem Standort mit seinen 22.000 Quadratmetern auch das Musée de l’Elysée und das mudac – musée de design et d’arts appliqués contemporains Einzug halten. Eröffnet wird das hierfür nach dem Entwurf des Studios Aires Mateus im Bau befindliche Gebäude dann in der ersten Jahreshälfte 2022. Wir haben Bernard Fibicher vom MCBA, Tatyana Franck vom Musée de l’Elysée und Chantal Prod’Hom vom mudac virtuell getroffen, wie man es in Zeiten von COVID-19 eben tut, um über dieses wunderbare Projekt eines gemeinsam geschaffenen Museumsquartiers zu sprechen und die Herausforderungen und Probleme aufzuzeigen, die mit dem Umzug ihrer Institutionen an diesen Ort einhergehen. Ein Umzug, den eines der Museen bereits vollzogen hat, während die beiden anderen ihn noch angehen müssen.

Bernard Fibicher, welche Herausforderungen gingen für Sie mit dem Umzug des MCBA einher?

Bernard Fibicher: Für mich gab es zwei Herausforderungen: den Umzug unter idealen Bedingungen durchführen, damit die Werke in perfektem Zustand in die Depots des neuen Museums gelangen, und die Übersiedlung für die gesamte Sammlung organisieren. Dazu war eine genaue und kontrollierte Inventur nötig. Aus diesem Grund haben wir das Museum ein Jahr lang geschlossen und eine umfangreiche Bestandsaufnahme von jedem Stück gemacht, auch von denen, die in verschiedenen Räumen des Kantons Waadt aufbewahrt werden. Wir sind die gesamte Sammlung durchgegangen (11.000 Stücke), haben eine beinahe vollständige Fotokampagne und ein Programm zur Restaurierung und Neurahmung durchgeführt. Diese enormen sorgfältigen Vorbereitungsarbeiten haben nicht nur die Konservatoren, sondern auch die Registrare und Techniker eineinhalb Jahre lang voll beschäftigt.

Und für Sie, Tatyana Franck und Chantal Prod’Hom? Welche Hindernisse sehen Sie für Ihre Institutionen vorher?

Tatyana Franck: Die Problematik eines Museums der Fotografie ist natürlich eine ganz andere als die eines Museums der schönen Künste oder des Designs. Sein Grundstock ist sehr wichtig, denn es verwaltet komplette fotografische Bestände, also nicht nur Abzüge, sondern auch Negative, Alben, die Korrespondenz von insgesamt etwa 100.000 Werken. Da haben wir nun nach fünfunddreissig Jahren die aussergewöhnliche Gelegenheit, grosse Arbeiten an den Kollektionen vorzunehmen, die auch nicht aufhören werden, sobald das Museum im neuen Gebäude eröffnet ist. Wir müssen inventarisieren, katalogisieren, digitalisieren. Wir haben im Mai 2019 damit begonnen, und die Sammlungen sind seither geschlossen. Im Januar 2023 werden wir unsere Pforten wieder öffnen. Jedes Museum hat seine besonderen Eigenheiten.

Chantal Prod’Hom: Wir setzen uns oft gemeinsam über unsere Probleme auseinander, haben aber kein Einheitsrezept, das wir auf alle drei Institutionen anwenden können. In Gegensatz zum MCBA und zum Elysée sind unsere Sammlungen nicht so umfangreich – es sind etwa 3000 Stücke. Wir haben unser Augenmerk und unsere Aktivitäten seit 2000 stark auf die Dynamik der temporären Ausstellungen gerichtet – im Durchschnitt 5,8 Ausstellungen pro Jahr – und auf die zeitgenössischen Arbeiten. Wenn es um den Umzug geht, dann stellt die Verschiedenheit der Sammlungen unseres Museums für Design das grösste Problem dar: Es gibt alle Arten von Materialien, Formaten, dreidimensionalen Objekten. Besonders komplex ist daher für die Sammlungen des mudac, mit dem Volumen zurechtzukommen. Eine Herausforderung wird es sein, die Kollektion der Glaskunst einzupacken. Auch wir haben in den letzten Jahren Inventur gemacht, während die Fotokampagne und die Überprüfung noch abgeschlossen werden müssen. Dabei ist es auch ganz wichtig, nach aussen zu vermitteln, welche Arbeiten während der Schliessung des Museums durchgeführt werden. Dem Publikum zu erklären, was hinter den Kulissen abläuft, wie es Bernard Fibicher mit seinen Videoclips getan hat, die auf der Website des Museums zu sehen sind.

Bernard Fibicher, Ihre Erfahrungen mit dem Umzug sind für Ihre beiden Kolleginnen sicher sehr wertvoll. Welchen Rat geben Sie ihnen?

BF: In der Tat. Wir treffen uns regelmässig und haben die Teams des Elysée und des mudac in unsere Depots eingeladen. Am schwierigsten ist es, in den Lagern ein stabiles Klima herzustellen. Wir haben gesehen, dass es mindestens ein Jahr dauert, bis Temperatur und Luftfeuchtigkeit sich stabilisieren. Für noch empfindlichere Werke wie Fotografien dauert es noch länger. Ich habe meinen Kolleginnen ausserdem von den Verspätungen beim Bau der Infrastrukturen erzählt und auf die Notwendigkeit hingewiesen, sich vorher mit allen Fachleuten abzusprechen, damit man keine Überraschungen erleben muss.

TF: Für uns ist es wirklich ein Glück, dass wir auf Bernards wertvolle Ratschläge zählen und von seiner Erfahrung profitieren können. Danke, Bernard!

CP: Wir hatten schon zahlreiche Treffen und vor allem eine Sitzung des technischen Teams von Bernard Fibicher mit dem unseren, um zu verstehen, was funktioniert hat und was nicht. Wir haben also noch die Möglichkeit, einzugreifen und Dinge zu ändern.

Konnten Sie selbst auf Expertenrat zählen, Bernard Fibicher? Zum Beispiel auf den von Dieter Bogner, der das Konzept des MuseumsQuartiers in Wien entwickelt hat?

BF: Oh ja, Dieter Bogner war eine grosse Hilfe, als es um die Verteilung der Funktionen in einem Museum ging. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Wo bewahrt man an einem Regentag die Regenschirme der Besucher auf? Er weiss genau, wie ein Museum funktioniert, aber er ist kein Spezialist auf dem Gebiet der Lagerung von Werken und der Konservation.

Konnten Sie in diesen Fragen der präventiven Konservation Beratung in Anspruch nehmen?

BF: Wir haben vor allem im Bereich der Infrastruktur mit Fachleuten gearbeitet, besonders mit dem Spezialisten Joachim Huber vom Büro Prevart; ich glaube, er ist einer der wenigen in der Schweiz.

TF: Es gibt tatsächlich wenige Fachleute, wie Bernard Fibicher schon sagte. Deshalb haben wir einen Pool für präventive Konservation und Restaurierung für unsere Institution geschaffen. Seit sechs Jahren arbeitet eine Spezialistin in präventiver Konservation bei uns. Wir möchten wirklich gern zu einem bedeutenden Kompetenzzentrum werden, in Anbetracht des wertvollen Bestandes, den wir zu verwalten haben.

BF: Für uns war der Informationsaustausch mit Museen, die so etwas schon durchgemacht haben, wirklich wichtig. Deshalb haben wir auch den Restaurator angestellt, der für den Umzug des Museums von Aarau in das neue Gebäude von Herzog & de Meuron verantwortlich gezeichnet hat. Er selbst war in Kontakt mit Kollegen aus Basel, Zürich und Genf. Dieser Informationsaustausch zwischen Spezialisten und Kollegen ist enorm wertvoll.

Wird die Vereinigung Ihrer drei Institutionen an einem Ort die Arbeit an gemeinsamen Grossprojekten begünstigen? 

TF: Was wir gerade mit Plateforme 10 zu schaffen beginnen, ist einzigartig. Die Stärke des Projekts liegt darin, dass wir drei spezialisierte Museen sind, deren Disziplinen sich ergänzen und die die Möglichkeit zur Kooperation haben. Wir möchten regelmässig gemeinschaftliche thematische oder monografische Ausstellungen organisieren, zu denen wir uns gemeinsam Gedanken machen, so dass jeder seinen Blickwinkel einbringen und entwickeln kann. Im Juni 2022 wird Plateforme 10 mit einer Ausstellung eröffnen, die von den drei Institutionen gemeinsam getragen wird.

CP: Das ist unsere Besonderheit und unsere Trumpfkarte: drei Institutionen, drei verschiedene Geschichten, drei vollkommen unterschiedliche Sammlungen. Wir müssen den Leuten zeigen, warum es so interessant ist, dass wir uns an einem Standort zusammentun: Unsere Disziplinen ergänzen sich perfekt.

BF: Wir haben tatsächlich ein grosses Potential, sowohl was Austausch bei den Dienstleistungen betrifft als auch auf der Ebene der Kompetenzen.

TF: Es entwickeln sich Synergien. So wird es im Gebäude Elysée/mudac zum Beispiel eine Bibliothek geben, ein Dokumentationszentrum, in dem man die Bücher an Ort und Stelle konsultieren kann. Das Musée de l’Elysée hat eine bedeutende Sammlung an Publikationen der Fotografie und einige als Objekte konzipierte Bücher. Da ist die Ergänzung mit einem Museum des Designs besonders stimulierend, denn es gibt viele Verlage, die Kunstbücher durch eine Partnerschaft zwischen Fotograf, Designer und Schriftsteller schaffen. Diese Objekte werden zusammen mit den Modellen der Originale in Schaukästen ausgestellt werden, so dass man den kreativen Prozess des Künstlers nachvollziehen kann. In der Eingangshalle werden wir gemeinsam mit dem mudac auch einen Gastronomiebereich haben, und dort wird der Dialog zwischen Design und Fotografie recht interessant werden. Synergien sind also nicht nur bei der Programmgestaltung möglich, sondern auch als Austausch von Kompetenzen zwischen den Teams.

CP: Fünf Jahre lang haben wir bei unseren Treffen des Vorstands, dessen Vorsitzende ich war, eng zusammengearbeitet. Mein Mandat lief im Februar aus. Nun treffen sich unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, mit ihren jeweiligen Besonderheiten, in Arbeitsgruppen zur Kommunikation, Kulturvermittlung, Verwaltung, Konservation.

Und was die Besucherinnen und Besucher betrifft?

TF: Die Kunstschaffenden und das Publikum stehen im Zentrum unserer täglichen Anstrengungen. Für die Besucherinnen und Besucher haben wir die Idee, einen Rundgang anzubieten, der im MCBA beginnt, das voraussichtlich schön früher öffnet, und dann weitergeht mit dem Elysée und dem mudac, in einem konzertierten und sich ergänzenden Angebot. Die Esplanade bietet Veranstaltungen im Freien. Es wird immer etwas zu entdecken und zu sehen geben!

BF: Wir bieten den Besuchern natürlich auch Vergünstigungen: An der gemeinsamen Kasse gibt es ein Ticket für alle drei Museen zusammen. Der lokale Besucher kommt eher für eine besondere Ausstellung in einem der Museen, während die von fern Angereisten mehrere Ausstellungen und Museen besuchen können. Wir werden hier einen einzigartigen Anziehungspunkt für die gesamte Schweiz bilden.

Gibt es in der Schweiz schon etwas Ähnliches? Zum Beispiel das 2015 eingeweihte LAC Lugano?

CP: Wirklich interessant ist am LAC Lugano, wie der öffentliche Platz verwendet wird. Michel Gagnon ist es gelungen, diesen Raum dynamisch zu gestalten. Da kann man eine Menge lernen.

Und in Europa? Wie sieht es mit dem MuseumsQuartier in Wien aus, das in den 1990er Jahren entstand?

BF: Das MuseumsQuartier in Wien ist ganz anders. Es hat eine eigene Marke, das «MQ», doch die drei Museen haben nie kooperiert, obwohl sie sich denselben Standort teilen.

Gibt es in Asien ähnliche Initiativen?

TF: Nein, auch dort gibt es nirgends diese Synergie zwischen drei Museen, mit diesem Willen, ein gemeinschaftliches Projekt zu schaffen.

CP: Wie Tatyana Franck schon sagt, gibt es diese Arbeit an einer von mehreren geschaffenen Identität nirgends sonst. Soweit ich weiss, handelt es sich höchstens um individuelle und private Initiativen. Was unsere drei Museen betrifft, möchten wir unsere Identität, unser Logo, unser Savoir-faire mit all unseren Unterschieden bewahren. Wir möchten eine reiche und komplementäre Programmgestaltung bieten. Und es wird interessant, zu sehen, wie sich diese Identität von Plateforme 10 auf Dauer herausbildet und den starken Identitäten jeder einzelnen Institution Rechnung trägt. Ein Museumsviertel für die Kultur wird aus dem Nichts aufgebaut – das ist bahnbrechend!

Autor: Laure Eynard, Historikerin, Doktor in Kunstgeschichte

Sammeln gegen das Trauma

Das War Childhood Museum in Sarajevo zeigt, dass ein Museum mehr kann als die Vergangenheit ausstellen.

Ein Museum kann ein Ort sein, an dem Dinge gezeigt werden, weil sie sonst in Vergessenheit geraten könnten. Im Museum kann man in fremde Welten reisen, untergegangene oder ferne Kulturen kennen lernen.

Ein Museum kann aber auch ein Ort sein, um etwas zu bewahren, gerade weil man es nicht vergessen kann, weil man sich zu gut daran erinnert und keinen anderen angemessenen Platz für diese Erinnerungen findet als eben das Museum. Das War Childhood Museum in Sarajevo ist so ein Ort. Jedes Ausstellungsstück gehört einer Person, die im Bosnienkrieg zwischen 1992 und 1995 ein Kind war. Anhand der Gegenstände teilen die Überlebenden ihre persönlichen Geschichten und Erfahrungen aus einer Kindheit im Krieg. Das Museum ist das erste weltweit, welches sich ausschliesslich den Kriegserfahrungen von Kindern widmet und sie dabei aus ihrer eigenen Perspektive erzählen lässt.

Es ist ein moderner Ort, an dem die Kindheitserinnerungen ausgestellt sind, ein stiller Ort. Die Ausstellungsstücke ruhen auf weissen Sockeln oder hängen an dünnen Fäden von der Decke. Ein Ballkleid, eine Gitarre, ein selbst genähter Teddybär, ein Lieblingsbuch, Konserven einer humanitären Lebensmittellieferung, ein Tagebuch mit Zeichnungen, Ballettschuhe. Über 4000 Objekte zählt die Sammlung. Über 150 Stunden Videomaterial dokumentieren den Kriegsalltag: Die Kinder von damals erzählen von Gewalt, Tod, Hunger, Angst. Aber auch vom Blödsinn, den sie mit den Nachbarskindern anstellten, wie sie stolz an Tanzaufführungen teilgenommen oder ihren ersten Liebesbrief geschrieben haben, wie sie Fussball spielten – und dann wieder davon, wie das Herumtollen auf dem Spielplatz jäh beendet werden konnte durch Granaten. Davon zeugt auch ein Rohr, das Teil des Spielplatzes war. Das Kind, das den Angriff überlebt hatte, brachte es ins Museum, als Andenken an seine getöteten Freunde.

Botschaften für den Frieden

Inzwischen liegt der Krieg über 20 Jahre zurück. Viele wollen nach vorne schauen und schweigen über das, was passiert ist. Und doch ist für viele der Krieg noch nicht vorbei, sie leiden bis heute. Die Idee, die Erinnerungen der Kinder des Bosnienkrieges zu sammeln, hatte Jasminko Halilovic. Mit dem Museum wollte er einen Ort schaffen, an dem Teilnehmende, die ihre Gegenstände brachten, und Besuchende ihre Traumata konfrontieren können, einen Ort, an dem viele individuelle Erfahrungen das kollektive Bewusstsein schärfen und das gegenseitige Verständnis fördern – fernab vom politischen und ethnisch aufgeladenen Gezerre um die Auslegung der jüngsten Vergangenheit. Der politische Widerstand wurde mit Crowdfunding, internationalen Geldern und viel freiwilligem Engagement überwunden. 2017 wurde das Museum eröffnet.

Jüngst hat das Museum den 2018 Council of Europe Museum Prize gewonnen. Die persönlichen Geschichten und Gegenstände seien eine starke Botschaft für den Frieden, würden zur Aussöhnung beitragen und die kulturelle Vielfalt stärken, begründet die Jury. Sie sieht das Museum als Vorbild für künftige Initiativen in Konflikt- und Postkonfliktgebieten. Halilovic und sein Team haben ihre Tätigkeit denn auch geografisch ausgeweitet und sammeln Erinnerungen von Kindern aus weiteren Kriegsregionen. (S. 31)

Dies ist ein aktualisierter Abdruck eines Artikels, der am 11. Mai 2018 anlässlich des Internationalen Museumstags im Tages-Anzeiger erschien.

Autorin: Aleksandra Hiltmann, Redakteurin Tages-Anzeiger

Unerzählten Geschichten Gehör verschaffen

Mehr wagen, Potenziale ausschöpfen: Dafür plädiert Jasminko Halilovic. Im Gespräch erklärt der 32-jährige Gründer und Direktor des War Childhood Museum in Sarajevo seine Vision.

Jasminko Halilovic kam 1988 in Sarajevo zur Welt, verbrachte dort seine Kindheit und absolvierte später ein Masterstudium in Finanzmanagement. 2012 publizierte er das Buch «Kindheit im Krieg – Sarajevo 1992–1995». Das Werk umfasst Erinnerungen von rund 1’600 Menschen, die ihre Kindheit während des Krieges in Sarajevo verbrachten. Es fand derart viel Anerkennung, dass daraus bald ein Museumsprojekt entstand. 2017 eröffnete das War Childhood Museum seine erste Ausstellung. Der Gründer und Direktor Jasminko Halilovic war Anfang dieses Jahres zu Gast am erstmals durchgeführten und vollbesetzten Schweizer Museums-Marketingtag im Rahmen der Cultura Suisse in Bern. Im Anschluss trafen wir ihn zum Gespräch.

Katharina Flieger: Herr Halilovic, bereits kurz nach der Eröffnung wurde das War Childhood Museum mit dem 2018 Council of Europe Museum Prize geehrt. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung? 

Jasminko Halilovic: Preise wie dieser sind auf internationaler Ebene kaum bekannt. Das bringt keinen Ruhm wie etwa ein Oscar. Aber man kann ihn für die Kommunikation nutzen und profitiert davon, dass man von den Behörden mehr respektiert und besser unterstützt wird. Der Preis erhöht auch unsere Glaubwürdigkeit bei Leihgebern, er öffnet Türen für neue Partnerschaften. Somit macht er uns das Leben etwas leichter. Und er ist eine zusätzliche Bestätigung für mein Team, die Qualität und die Relevanz dessen, was wir hier tun.

KF: Während Ihres Vortrags eben plädierten Sie für ein stärkeres unternehmerisches Denken der Museen. Weshalb? 

JH: Meine bisher wichtigste Erkenntnis als Museumsdirektor ist, dass es falsch ist, Museumsarbeit und Unternehmertum zu trennen. Denn da gibt es eigentlich keinen Unterschied: Man muss um Besucherinnen und Besucher kämpfen, muss sich gegen andere Unterhaltungsangebote wie etwa Kinos oder Restaurants durchsetzen. Man kann sich nicht zurücklehnen und auf das Publikum warten, sondern muss die Leute immer wieder aktiv gewinnen, sich selbst dabei stetig verbessern. Das entspricht dem unternehmerischen Denken. Darum plädiere ich dafür, den unternehmerischen Aspekt stärker in den Fokus zu rücken. Nicht weil Museen zu Firmen werden sollen, sondern weil ich denke, dass sie dadurch dynamischer werden können.

KF: Was wäre damit gewonnen?

JH: Viele Museen nutzen technologische Möglichkeiten zu wenig – sei es für die eigene Website, in Form von Apps, für die Vermittlung oder für Werbung. Im Gegensatz zu anderen Branchen ist da vieles veraltet. Besonders in unserer Region, aber auch in Westeuropa und den USA begegne ich immer wieder überholten, unattraktiven Formaten. Da müsste man mehr Energie investieren, denn das Potenzial ist riesig!

Museen haben im Gegensatz zu anderen Institutionen einen grossen Vorteil: Sie können alles machen! Sie verfügen über virtuelle und physische Räume, können alle Arten von Objekten und Geschichten multimedial präsentieren. Museen geniessen das Vertrauen der Menschen, sie können bilden und unterhalten, ja sie können gar Leute zum Übernachten einladen. Darum schmerzt es mich zu sehen, wenn Museen um Publikum und Aufmerksamkeit kämpfen müssen.

KF: Um Aufmerksamkeit kämpfen müssen Sie ja nicht. Im Gegenteil: Sie erfahren viel Unterstützung, weiten Ihre Sammlung aus. 

JH: Ja, wir arbeiten heute auch im Libanon, in der Ukraine und mit syrischen Flüchtlingen in Serbien und Bosnien. In Berlin werden wir ein Büro eröffnen, damit wir uns mit unserer Wanderausstellung einfacher innerhalb der EU bewegen können. Wir verfolgen unterschiedliche Strategien, um unsere Sammlung zu vergrössern, und bilden Leute methodisch dazu aus, die Feldarbeit zu machen und Objekte zu sammeln. Da akzeptieren wir alle Objekte, die erkennbar relevant mit einer Erinnerung verbunden sind. Das eigentliche Herzstück der Sammlung sind Geschichten – die Objekte nutzen wir, um diese zu erzählen.

KF: Diese Geschichten stossen auf vielfältiges Interesse. Welche Art von Kooperationen gehen Sie ein? 

JH: Wir pflegen die internationale Zusammenarbeit mit zahlreichen Universitäten, mit Forscherinnen und Forschern aus unterschiedlichsten Gebieten wie Psychologie, Geschichte, Museologie. Schriftstellerinnen, Fotografen, Künstlerinnen wenden sich mit eigenen Initiativen an uns. Es ist uns wichtig, dass die gesammelten Materialien auf ganz unterschiedliche Weise genutzt werden können. Darum bemühen wir uns auch um englische Übersetzungen. Ich freue mich immer, wenn neue Leute auf uns zukommen, wenn es uns gelingt, als Plattform zu wachsen.

KF: Sie investieren Ihre ganze Energie in dieses Museumsprojekt, kommen aber ursprünglich aus der Finanzwelt. Woher rührt diese Motivation, dieser enorme persönliche Einsatz? 

JH: Ich bin selber Teil der Generation bosnischer Kriegskinder. Ich wollte etwas für diese Generation tun, wollte, dass ihre Geschichten gehört werden. Daraus wurde eine professionelle Mission. Viele Menschen sind es müde, schlechte Nachrichten zu hören, sich mit Krieg und Gewalt auseinanderzusetzen. Aber den Geschichten der Kinder hören sie zu. Damit können wir einen Beitrag leisten zu einem globalen Bewusstsein für die Bedürfnisse von Kindern. Und den erzählenden Menschen hilft es, in ihrem Prozess des Umgangs mit dem Kriegstrauma ein Stück weiterzukommen.

Als ich vor einiger Zeit in Japan war, unterhielt ich mich mit Menschen, die als Kinder den Zweiten Weltkrieg miterlebt hatten. Sie sagten mir: «Nun sind 70 Jahre vergangen, und niemand hat uns je gefragt, wie es für uns war.» Die Geschichten von Kindern sind unerzählte Geschichten – selten gehört und ohne Gewicht in Gerichtsverhandlungen. Im Vordergrund stehen meist die Geschichten von Soldaten, von Politikerinnen und Politikern, von Medienschaffenden. Diese Lücke müssen wir schliessen. Darum ist unsere Mission wichtig. Darum wollen wir daraus ein weltweites Projekt machen.

Autorin: Katharina Flieger, Redakteurin Schweizer Museumszeitschrift

Das Museum ist bis auf Weiteres geschlossen

Mit Blick auf die Herausforderungen und Chancen der digitalen Zukunft präsentierte das Museum für Kommunikation in Bern Anfang des Jahres eine neue Strategie. Diese musste durch die Corona-Pandemie unerwartet rasch umgesetzt werden. Ein Kraftakt, wie Christian Rohner, Leiter Ausstellungen und digitales Museum, aufzeigt.

Anfang Februar 2020: Wir präsentieren den Medien unsere taufrische digitale Vision eines «Museums ohne Schliesszeiten». Während eines Jahres hat ein Team von sechs Personen an dieser Strategie gearbeitet. Nun fällt der Startschuss für die Umsetzung – wir suchen die Balance zwischen dem Analogen und dem Digitalen. Dies zumindest ist unser Plan.

Mitte März 2020: «Das Museum ist bis auf Weiteres GESCHLOSSEN.» So lautet die Botschaft auf der Website des Museums für Kommunikation. Ich hätte nie gedacht, dass es so weit kommen könnte: Eine Pandemie namens Corona hat das Leben in der Schweiz lahmgelegt und auch die Museumswelt überrascht. Die Krise und die von der Regierung per Notrecht verfügte Schliessung aller Museen zwingen uns dazu, einige Aspekte unserer Zukunftsstrategie unfreiwillig schnell zu erproben. Um nicht komplett die Lichter in den Ausstellungen löschen zu müssen, testen wir neue Formate. Seit dem 24. März übertragen wir versuchsweise Führungen ins Netz: Viermal in der Woche begrüsst ein dreiköpfiges Team Besucherinnen und Besucher per Livestream. Das Online-Publikum wird auf einem 15-minütigen Rundgang zu einem bestimmten Thema durch eine der Ausstellungen geführt.

Smartphone statt Kamerateam

Die Einführung dieses neuen, digitalen Formats ist nicht einfach, denn in unserem Team hat niemand Erfahrung damit. Vor Corona haben wir entsprechende Möglichkeiten zwar angedacht, die Notwendigkeit, ein solches Projekt rasch zu realisieren, ergab sich jedoch erst mit dem Lockdown. Nun galt es, Nägel mit Köpfen zu machen: Auf welchem Kanal soll die Führung gestreamt werden? Was sind Konsequenzen in Bezug auf das Urheberrecht und (wie) sollen diese Führungen archiviert werden? Wie fühlen sich die Kommunikatorinnen und Kommunikatoren, wenn sie in eine Kamera sprechen? Die Antworten auf all diese praktischen Fragen können wir nur nach dem Trial-and-Error-Prinzip finden.

Der digitale Wandel der vergangenen Jahrzehnte zeigt sich im neuen Vermittlungsformat eindrücklich: Wäre für ein vergleichbares Vorhaben noch bis in die 1990er Jahre ein TV-Übertragungswagen samt Ton, Kamera und Moderation notwendig gewesen, reichen 2020 ein Smartphone und ein Streamingdienst. Das grundlegend veränderte Nutzungsverhalten im Umgang mit digitalen Inhalten kann für Institutionen aber auch zum Problem werden: Bilder von museumseigenen Sammlungsobjekten und Ausstellungen finden sich etwa in Fremddatenbanken, ohne dass die Quelle genannt wird oder Kontakt zu uns aufgenommen wurde. Mit der digitalen Strategie, die wir gemeinsam mit dem PTT-Archiv erarbeitet haben, wollen wir daher nicht nur in der virtuellen Welt präsenter werden, sondern auch dieser Problematik begegnen. Unser Museum und das PTT-Archiv sind in der Schweizerischen Stiftung für die Geschichte der Post und Telekommunikation zusammengeschlossen.

Katalysator für ein neues Museumsdenken

Unsere digitale Strategie verfolgt drei Stossrichtungen: die Präsenz in der virtuellen Welt auszubauen, die kulturelle Teilhabe zu stärken und das kulturelle Gedächtnis zu fördern. Die aufgezwungene physische Schliessung bringt uns dieser Vision nun ungewohnt schnell näher. Denn wer jetzt weiterhin erlebbar sein will, muss digital präsent sein, die digitale Präsenz weiter ausbauen. Die Pandemie wird zum Innovationstreiber beziehungsweise Katalysator für ein neues Museumsdenken.

Das erste Ziel unserer Strategie, die verstärkte «digitale Präsenz», drückt den Wunsch aus, das Museum für Kommunikation und das PTT-Archiv als vernetzte Gedächtnisinstitutionen zeit- und ortsunabhängig erlebbar zu machen. In der Konsequenz sollen die Institutionen ein «Museum und Archiv ohne Schliesszeiten» werden. Um längerfristig digital präsent zu sein, will das Museum zielgruppenspezifische Angebote entwickeln, etwa Ausstellungsbesuche mit weiterführenden Applikationen oder digitale Ausstellungsdokumentationen. Zusätzlich zum eigenen Metaportal möchten wir fünf Prozent der Inhalte des Archivs und der Sammlung auf häufig genutzten Plattformen wie Wikipedia oder Europeana verfügbar machen.

Unsere zweite Ambition gilt der «Kultur der Teilhabe». Diesbezüglich lassen sich zwei Anliegen festmachen: Zum einen sollen Besucher und Besucherinnen die Möglichkeit erhalten, Themen mitzubestimmen, Sammlungsobjekte und Geschichten vorzuschlagen. Zum anderen sollen Mitarbeitende kollaborativ und wo sinnvoll ortsunabhängig arbeiten können. Beides findet aktuell neue Aufmerksamkeit: Im Livestream im Chat kann derzeit das Publikum neue Themen vorschlagen. Und dank der bereits 2019 vorgenommenen IT-Umstellung können die Mitarbeitenden heute problemlos im Homeoffice diverse Programme effizient nutzen.

Unser drittes Ziel betrifft das «kulturelle Gedächtnis». Die Inhalte des Museums und des PTT-Archivs sollen digital zugänglich gemacht und vernetzt werden, damit die Bestände leicht zu finden und langfristig gesichert sind. Wie wichtig dieser digitale Zugriff ist, zeigt sich in der jetzigen Situation, in der ein Besuch vor Ort nicht möglich ist.

Vernetzung quer durch die Institutionen

Die Digitalisierung fordert uns aber auch organisatorisch heraus, denn sie bedingt eine Vernetzung, die sich nicht an gewachsenen Bereichsstrukturen orientiert. Auch bei uns sind die Entwicklung und die Umsetzung der digitalen Strategie Querschnittsaufgaben. Ein erster Schritt in diesem Kulturwandel war die Gründung des DigiLab, eines Sitzungsgefässes für ein Team von Personen aus allen Bereichen des Museums sowie des Archivs. Dieses Team hat die zwölfseitige digitale Strategie gemeinsam erarbeitet. Dazu gibt es ein Glossar und eine gemeinsame Planung für die etappierte Umsetzung. Das DigiLab koordiniert und kontrolliert die Entwicklung einer neuen Website, ein Konzept für das Ausstellen und Vermitteln, die Evaluation der Sammlungs- und Adressdatenbank, die Digitalisierung der Administrationsprozesse, die interne Kommunikation, digitale Langzeitarchivierung und zwei grosse Retrodigitalisierungsprojekte von nationaler Bedeutung. All dies wird freilich nur gelingen, wenn Drittmittel generiert werden können – denn während die Präsenz im digitalen Raum wächst, wird das Betriebsbudget nicht grösser.

Virtuelles Museum wird Realität

Sobald unser Museum die Türen wieder öffnen darf, wird sich die Frage stellen, wie wir das neu Erarbeitete mit dem Vertrauten verknüpfen können. Wir arbeiten daran, dass das «Museum und Archiv ohne Schliesszeiten» bald nicht mehr nur Vision ist. Die Livestream-Führungen, die Retrodigitalisierung unserer Bildbestände und das kollaborative Arbeiten im Netz sind ein Anfang. Bereits im September 2019 haben wir einen Blog aufgeschaltet: «Lull&Lall – Kommunikation mit Drall» reflektiert humorvoll den digitalen Wandel. In Vorbereitung ist die erste virtuelle Ausstellung, ein Folgeprojekt zur Wechselausstellung «Sounds of Silence». Auch das Thema Corona – ein prototypisches Beispiel für kulturelles Gedächtnis – wird zu einem späteren Zeitpunkt einen Platz in der permanenten Ausstellung finden.

Digitale und analoge Angebote sollen künftig gleichwertig nebeneinanderstehen, miteinander verbunden sein und ergänzend genutzt werden. Die aktuelle Situation bietet uns dafür eine unerwartete Chance: Weil uns die analoge Welt derzeit nicht mehr zur Verfügung steht, müssen wir uns jetzt ganz in das Digitale hineingeben. Corona hat das Digitale entmystifiziert.

Wünschenswert wäre, dass die Schweizer Museen eine gemeinsame Plattform finden, auf der sich die einzelnen Institutionen mit ihren digitalen Angeboten präsentieren können, sodass das Tor zur digitalen Kulturwelt nicht anderen überlassen wird. Ich hoffe auch, dass sich Livestream-Führungen trotz Anlaufschwierigkeiten als bleibendes Angebot etablieren werden. Das Publikum, das sich am Dialog aktiv beteiligt hat, reagierte positiv. Streng genommen müsste es also heissen: «Das Museumsgebäude ist bis auf Weiteres GESCHLOSSEN. Das Museum ist virtuell GEÖFFNET.»

Autor: Christian Rohner, Leiter Ausstellungen und digitales Museum sowie Projektleiter der neuen Kernausstellung im Museum für Kommunikation

Digitalisierung und Bibliotheken – geht das zusammen?

Die Digitalisierung eines komplexen bibliothekarischen Systems aus Archiven, Geschichten und Büchern: wie das gehen kann, darüber sprechen wir mit dem Tessiner Stefano Vassere, Leiter des Sistema Bibliotecario Ticinese.

Die Definition, die man in der renommierten Enciclopedia Treccani findet, ist ganz einfach: Digitalisierung ist «die Übersetzung von Informationen in Computersprache». Ein wenig komplizierter wird es, wenn man zu verstehen versucht, was diese Übersetzung bedeutet, die man vielleicht als Boot verstehen kann, das wertvolle Fracht von einem Ufer zum anderen transportiert und die auf zwei Ebenen abläuft, der technischen einerseits und der konzeptuellen andererseits. In diesen epochalen Prozess ist unvermeidlich auch der kulturelle Sektor eingebunden, der aus zahlreichen Disziplinen besteht, von der Musik zur Literatur, über Theater, Museen, Kunstwerke und so vieles mehr. Auch die Bibliotheken, Hüter des Wissens der Menschheit seit jenem antiken und wegbereitenden Gebäude, das 305 vor Christus in Alexandria in Ägypten errichtet wurde, können und wollen sich verständlicherweise diesem Prozess nicht entziehen, der inzwischen alle Aktivitäten des Menschen betrifft.

Neue Energie für Archive und antike Buchbestände

Mit dieser Entwicklung setzt sich auch der Linguist Stefano Vassere auseinander, Leiter des Sistema Bibliotecario Ticinese, Universitätsdozent, Journalist und im Tessin äusserst aktiver Kulturschaffender, mit dem wir uns im lebhaften Kulturzentrum mit Bibliothek La Filanda in Mendrisio getroffen haben. Wie so viele andere auch begleitet Vassere diesen komplexen und schwierigen Vorgang aus der Nähe und weiss daher, was es bedeutet, Wissen zu digitalisieren, also etwas, das zum Flüchtigsten und zugleich Solidesten gehört, das es gibt. «Aufgabe der Bibliotheken ist es selbstverständlich», erklärt Vassere, «den Zugang zum E-Book zu ermöglichen, aber darüber hinaus auch die eigenen Originalmaterialien wie antike Buchbestände oder eigene Produktionen (Akten von Symposien oder anderen kulturellen Aktivitäten, Ausstellungskataloge usw.) zu digitalisieren. Daher hat im Tessin die Divisione della cultura e degli studi universitari schon seit geraumer Zeit eine digitale Bibliothek geschaffen, die die Materialien sammelt und von einem einzigen Ort aus verfügbar macht« (bibliotecadigitale.ti.ch). Es ist tatsächlich ganz wesentlich, dass der Digitalisierungsvorgang zentralisiert abläuft, denn ein so umfangreiches Projekt impliziert, neue Kompetenzen zu erlernen und ständig neue Materialien und Bestände auszuwählen, die digitalisiert werden sollen.

Achtung: nicht alles ist digitalisiert 

Ein sogenannter digital immigrant, also jemand, der mit Bibliotheken aus echten und oft alten und staubigen Büchern, mit einem Kärtchen, das die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Institut bescheinigte, aufgewachsen ist, hat oft Angst, in den Windungen der körperlosen Informatik könne etwas verloren gehen, doch laut Vassere ist das wahre Problem ein anderes: «Es besteht die paradoxe Gefahr, dass man nur noch das digitalisierte Material als bedeutend ansieht.

Wenn wir beschliessen, einen Bestand online verfügbar zu machen, kommt die Sorge auf, dass der Nutzer und auch die Bibliothek selbst das von der Operation ausgenommene Material komplett vergessen. In diesem Sinn wird dem digitalisierten Material ein zusätzlicher Wert zugesprochen, und dies ist in einigen Fällen ungerechtfertigt. Ein wenig ist das so wie einst mit den Fotokopien; Umberto Eco meinte, die Fotokopie eines Artikels oder eines Buchs lasse im Leser fälschlich den Eindruck entstehen, den Inhalt zu besitzen, sogar ohne ihn gelesen zu haben».

Es ist also nicht unangebracht, die Annäherung von Digitalisierung und Bibliotheken als einen Widerspruch zu sehen? «Wir müssen über die Tatsache hinausgehen», meint Vassere, «dass die Digitalisierung ein Gegenspieler der Bibliothek in ihrer traditionellen Rolle und als Ort sozialer Gemeinschaft ist. Man sollte nicht vergessen, dass die Rolle der Bibliothek auch die einer Wissensagentur ist, die Kenntnisse und Kultur in allen Formen verbreitet und auch die Berufung hat, neue Prozesse und Tendenzen zu erkennen». Doch man sollte nicht übertreiben, warnt Vassere abschliessend, denn wenn eine Bibliothek wirklich all ihr Material in digitaler Form anbieten würde, wäre der Behälter dieses Materials, das Bibliotheksgebäude, der grossen Herausforderung ausgesetzt, neue Rollen und Berufungen zu finden und seine Aufgabe zu überdenken.

Autorin: Simona Sala, Kulturjournalistin, seit mehr als 20 Jahren Leiterin der Abteilung Kultur von Azione, Kulturschaffende, Verlegerin und Übersetzerin

In Zeiten des Lockdown wird auch die Kultur digital

Wie die Coronakrise die Museen zwingt, neue digitale Wege zu gehen, um den Kontakt zum Publikum nicht zu verlieren.

Als Florenz im Jahr 1348 dem Albtraum der Pest ausgesetzt war, beschlossen sieben Frauen und drei Männer, sich in der Hügellandschaft vor der Stadt in Isolation zu begeben, und verbrachten zehn Tage damit, jeder eine Geschichte pro Tag zu erzählen. Das Ergebnis dieser unfreiwilligen Isolation haben wir noch heute in Händen: das Dekameron von Giovanni Boccaccio (1313-1375) ist ein Meilenstein der Weltliteratur. 1348 war die Technologie noch Lichtjahre entfernt, so dass die zehn jungen Menschen, die sich vor der Seuche versteckten, nur zwei Kommunikationsmittel zur Verfügung hatten: die Fantasie (oder das Gedächtnis) und die Stimme.

Heute, zu einer Zeit, in der wir uns unversehens in einer ganz neuen Situation befinden und wegen des gefürchteten Coronavirus auf unbestimmte Zeit zuhause bleiben müssen, greifen wir wo immer möglich auf die Technologie zurück: home schooling, teleworking, conference calls und selbstverständlich alle sozialen Medien. Und es ist nur natürlich, dass auch die Kultur mit ihren komplizierten Strukturen (Museen, Theatern, Konzertsälen) von dieser Krise voll getroffen wurde, die für die Menschheit eine Neuheit darstellt.

Auch die Kultur wird sich ändern müssen

«Wir dürfen uns nicht vorstellen, dass alles wie zuvor werden wird (…) die schweizerische Kulturszene wird sich verändern», versicherte vor einigen Tagen der Leiter von Pro Helvetia Philippe Bischof der Tageszeitung 24Heures. Doch viele Einrichtungen versuchen, in Erwartung dieses ‘Danach’, dessen räumliche und zeitliche Koordinaten heute noch keiner kennt, die Situation so gut wie möglich zu nutzen und stützen sich dabei auf die Möglichkeiten, die das web ihnen bietet. Die Kultur bewegt sich, und so haben wir auf der einen Seite immer mehr Schriftsteller und Musiker, die ihren followers Nachrichten schicken, und entdecken auf der anderen ein Netz an Museen, das sich verändert und versucht, zumindest zum Teil einen Ausgleich für die fehlenden Möglichkeiten zum sozialen Kontakt zu bieten. Stefano Vassere (siehe Artikel) lädt die Nutzer des vielbesuchten Kulturzentrums mit Bibliothek La Filanda (Mendrisio) und nicht nur sie dazu ein, sich mit den 300'000 Ressourcen (Büchern, Hörbüchern, Audiomaterial, Partituren aber auch 250 Konferenzen) zu beschäftigen, über die das Tessiner Bibliothekensystem verfügt (www.sbt.ti.ch/sbt/).

Was hat Ihnen dieser Besuch in der Welt der Schweizer Museen gegeben?

Ich schätze insbesondere die auf die Bedürfnisse des Publikums abgestimmte Gestaltung und die Verwendung von Audioguides und neuer Technologien für die Kulturvermittlung. Wenn ich nach Dakar zurückkehre, würde ich diese Instrumente gerne einführen, sowie auch die Applikation MuseumPlus, um die Verwaltung der Werke zu erleichtern und unsere Forschungs- und Dokumentationsarbeit effizienter zu gestalten. Anlässlich des Besuchs der Sekretärin des ICOM Schweiz und der VMS habe ich alle einfachen und praktischen Publikationen erhalten, die von der Vereinigung für die Mitarbeiter von Museen abgefasst wurden. Ich bin mit einem Koffer gekommen und reise mit einem zweiten Koffer voller Dokumentationen über die Schweizer Museen wieder ab.

Virtuelle Führungen, Lektionen in Pillenform und Briefe an die Museumsdirektoren

Und was tun die Museen? Wir haben eine virtuelle Erkundung unternommen, um herauszufinden, was sie so alles organisiert haben, in der Schweiz und im Ausland. Das Kunsthaus Zürich (das die weltweit hochgelobte Ausstellung von Olafur Eliasson schliessen musste), bietet auf YouTube und Instagram virtual tours an, die Fondation Beyeler (bei der sich die Türen zur Hopper gewidmeten Ausstellung des Jahres schlossen), richtet sich auf Instagram direkt an die Nutzer und fragt in der Story From Home, was sie gerne erzählt bekommen würden. Auf derselben Linie agiert das Museo Vincenzo Vela in Ligornetto, wo man jedoch, ebenfalls auf Instagram und Facebook, die Besucherinnen und Besucher nicht nur auffordert, der Leiterin Gianna A. Mina oder dem Kunsthistoriker Marc-Joachim Wasmer ihre Fragen zu stellen, um an das 200jährige Jubiläum des Bildhauers Vela zu erinnern (die Festlichkeiten hierzu wurden verschoben), sondern die Nutzer auch einlädt, Postkarten zu schicken und Videos aufzunehmen. Das Museum für Gestaltung in Zürich, das schon vor einiger Zeit mit dem Prozess der Digitalisierung begonnen hat, kann dem Publikum bereits jetzt einen Überblick über einen Grossteil seiner Werke bieten, sowie eine Reihe von Aktivitäten für Gross und Klein, mit denen man während des Lockdowns seine Zeit verbringen kann (#MuseumFromHome).

Ein Museumsbesuch wird noch aufregender 

Besonders umfangreich ist das Angebot einiger italienischer Museen (wo die Krise schon früher ihren Anfang hatte), unter hashtags wie #museichiusimuseiaperti und #laculturanonsiferma. Vom Museo nazionale della Scienza e della Tecnologia Leonardo da Vinci in Mailand finden wir zum Beispiel die Initiative #storieaportechiuse, die Kindern auf Instagram jeden Tag eine neue Anekdote erzählt. Minilektionen in Pillenform auch beim Museo Egizio in Turin, wo Christian Greco mit einer Reihe von didaktischen Initiativen online zum «kulturellen Widerstand» aufgerufen hat, gleichzeitig aber auch über die Zukunft nachdenkt, in der man seiner Meinung nach die Digitalisierung auch auf archäologische Grabungsstätten, Bibliotheken und die Plätze der Stadt ausweiten müsste, und zwar mit Hilfe von technologischen Instrumenten wie street view und walk-in projects.

Dank des Webs ist die Kultur so leicht zu erreichen wie noch nie. Und die Coronakrise kann, wie jeder Moment der Unsicherheit, Licht auf neue Möglichkeiten werfen und innovative Dialogfenster öffnen. Es wird in Zukunft wichtig sein, ein Gleichgewicht zwischen «Konkretheit im Museum» und Digitalisierung zu finden, und wo dies gelingt, wird sich ein mächtiges Band zwischen dem Publikum und der Kunst bilden. Dank des Webs haben wir die Möglichkeit «to stay in touch», und wenn alles vorüber ist, wird uns ein Museumsbesuch noch schöner vorkommen. Ein wenig so, als käme man nach Hause.

Autorin: Simona Sala, Kulturjournalistin, seit mehr als 20 Jahren Leiterin der Abteilung Kultur von Azione, Kulturschaffende, Verlegerin und Übersetzerin