Objektgeschichten gemeinsam erforschen

Acht Schweizer Museen betraten Neuland in einem Forschungsprojekt über zwei Kontinente hinweg: Im Rahmen der Benin Initiative Schweiz untersuchten sie gemeinsam ihre Sammlungen nach Raubkunst. Dabei war der Dialog mit Nigeria wegweisend.

Im einstigen Königreich Benin wurde ab dem 16. Jahrhundert der Palast des Herrschers, Oba genannt, mit zahlreichen Tafeln und Skulpturen geschmückt: Tier- und Menschenfiguren, königliche Regalien und Ornamente, Götter- und Teufelsbildnisse. Das Wissen um deren Bedeutung und Fertigung wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Die heute als sogenannte Benin-Bronzen bekannten Objekte stellten die Geschichte des Königreichs auf verschiedenen Ebenen dar. So dienten die Reliefs im Palast als historisches Archiv – bis 1897 die britische Armee in Benin City einfiel. Der Palast brannte ab, der damalige König wurde abgesetzt und ins Exil geschickt. Tausende Kunstwerke wurden entwendet. Die Benin-Bronzen gelangten über den kolonialen Handel in private und öffentliche Sammlungen auf der ganzen Welt.

Heute finden sich manche dieser Bronzen in öffentlichen Sammlungen der Schweiz. Das Bernische Historische Museum, das Kulturmuseum St. Gallen (vormals Historische und Völkerkundemuseum), das Musée d’ethnographie de Genève, das Musée d’ethnographie de Neuchâtel, das Museum der Kulturen Basel, das Museum Schloss Burgdorf, das Völkerkundemuseum der Universität Zürich und das Museum Rietberg Zürich haben sich deshalb zusammengeschlossen, um die Herkunftsgeschichten ihrer Sammlungen aus dem einstigen Königtum Benin zu untersuchen. Unterstützt wurde das Projekt vom Bundesamt für Kultur (BAK), die Leitung der Benin-Initiative übernahm das Museum Rietberg, das die Initiative auch ergriffen hatte.

Neu ist sie nicht, die Debatte um Provenienz und Restitution, also Herkunftserforschung und Rückgabe geraubter Kulturgüter. Neu ist jedoch, dass eine Gruppe von Schweizer Museen diese Frage aktiv angeht und dabei eng kooperiert. Und neu ist auch die vertiefte Zusammenarbeit mit dem Herkunftsland. Auf den Austausch und den Dialog mit Fachleuten aus Nigeria wurde grosser Wert gelegt.

Aufwändige Spurensuche hier und dort

Die geteilten Geschichten der Objekte wurden gemeinsam mit nigerianischen Partner:innen aus dem Königspalast, aus den Nationalmuseen und aus der Forschung erarbeitet. Eine wichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang Enibokum Uzebu-Imarhiagbe. Die Historikerin der Universität Benin City forschte nicht nur in Archiven, sondern stützte sich auch auf mündlich überlieferte Geschichten. Dazu interviewte sie Künstler aus der bis heute bestehenden Gilde der Benin-Bronzengiesser.

Die Einbindung der nigerianischen Perspektive erwies sich als enorme Bereicherung – für beide Seiten. So besuchte Enibokum Uzebu-Imarhiagbe im Herbst 2021 Sammlungen in der Schweiz. «Für mich war es das erste Mal, dass ich die Objekte, die meine Vorfahren geschaffen haben und die mit der Strafexpedition aus dem Land verschwanden, betrachten und anfassen konnte», schwärmt sie in einer Videodokumentation über den gegenseitigen Forschungsaustausch. Den hiesigen Fachleuten wiederum öffnete die interkontinentale Zusammenarbeit die Augen für bisherige blinde Flecken. Im Frühjahr 2022 reisten Michaela Oberhofer und Alice Hertzog, respektive Co-Leiterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projekts, nach Benin City. «Der aufregendste Teil dieses Projekts ist der Austausch. Einerseits zwischen Nigeria und der Schweiz als Staaten und andererseits zwischen den Forschenden aus beiden Ländern.», so Enibokum Uzebu-Imarhiagbe.

Historischer Moment im Museum Rietberg

Die Bedeutung dieser länderübergreifenden Zusammenarbeit wurde Anfang Februar 2023 auch für die breitere Öffentlichkeit sichtbar. Im übervollen Vortragssaal in der Park-Villa Rieter des Museums Rietberg wurde der Schlussbericht des Projekts an eine zehnköpfige Delegation aus Nigeria übergeben. Ein historischer Moment, raunte es in den Reihen der Anwesenden. Eine zentrale Erkenntnis der Forschungsarbeit: Rund die Hälfte der 100 Benin-Objekte in Schweizer Museen wurde sicher oder wahrscheinlich geraubt.

Die Beteiligten der Initiative verabschiedeten eine gemeinsame Erklärung zum künftigen Umgang mit den Objekten. Die Museen zeigen sich etwa offen dafür, dass die früheren Besitzer:innen die geplünderten Gegenstände als Eigentum übernehmen. «Das kann bedeuten, dass Objekte aus der Schweiz wieder nach Nigeria zurückkehren», sagt Michaela Oberhofer. Die Werke könnten aber auch als Leihgaben in Schweizer Museen bleiben. Das BAK finanziert das Projekt ein weiteres Jahr, um die kollaborative Forschung, aber auch die gemeinsame Vermittlung in Ausstellung zu stärken.

Zudem soll die Zusammenarbeit von Museen mit umstrittenen Sammlungen gestärkt werden. Allerdings gibt es in den USA durchaus Stimmen, die sich gegen eine allfällige Rückgabe aussprechen: Nachfahr:innen versklavter Menschen aus Nigeria meldeten schon vor Jahren ein Anrecht auf Miteigentümerschaft an den Benin-Bronzen an. Sie begründen dies mit einem kritischen Blick auf das Königreich von Benin, das selbst am transatlantischen Versklavungshandel beteiligt gewesen sei. Die weltweit bewunderten Bronzen seien aus europäischen Metallen gegossen worden – einem Material, das von portugiesischen und später anderen europäischen Händlern gegen Sklav:innen eingetauscht worden sei.

Wo auch immer die Benin-Objekte in Zukunft zu sehen sein werden: Mit der formellen Übergabe des Berichts, der entsprechenden Medienberichterstattung und der aktuellen Ausstellung «Wege der Kunst» im Museum Rietberg trugen die beteiligten Institutionen wichtige Fragen in die Öffentlichkeit und informierten über Provenienzforschung als Beitrag zur Dekolonisierung von Museen.


Kuratiert wurde «Wege der Kunst» unter anderem von Esther Tisa Francini, die im Museum Rietberg für das Schriftenarchiv und die Provenienzforschung zuständig ist. Sie befasst sich seit 2008 mit der Sammlungsgeschichte des Museums und leitet die Benin Initiative Schweiz mit. Ein Gespräch über die Frage, wie sich kolonialer Kontext in der Ausstellung vermitteln lässt.

KF: Dokumente der Benin Initiative Schweiz (BIS) sind auch in der aktuellen Ausstellung «Wege der Kunst» präsent. Worum geht es da?

ET: Wir erzählen die Geschichten, die sich hinter den Objekten verbergen und die bis heute noch nie erzählt wurden. Dies tun wir auf umfassende Weise. Ursprünglich war «Wege der Kunst» als separate Sonderausstellung gedacht, aber wir haben uns für ein anderes Konzept entschieden. Wir wollten diese Geschichten anhand repräsentativ ausgewählter Beispiele in unserer Sammlungspräsentation erzählen. Deshalb geben wir ihnen einen Platz in unserer Dauerausstellung, wo sie im Dialog mit den Sammlungen stehen.

Wir wollten weg von einer auf die Ästhetik fokussierten Präsentation der Objekte, hin zu neuen, multiperspektivischen Museumsnarrativen. Indem wir den Kontext der Provenienz mit vermitteln, erhält die Präsentation eine neue Dimension. Wir hinterfragen, wer wir sind und was wir machen, zeigen also auch die Geschichte unserer Institution. Künftig möchten wir ergänzende Perspektiven aus den Herkunftsländern stärker integrieren.

Ist das nicht etwas viel Information? Warum ist es Ihnen wichtig, dass das breite Publikum derart umfassendes Kontextwissen mitnimmt?

Ich glaube, Museen werden als etwas Statisches wahrgenommen und Sammlungen als geschlossene Einheiten. Das vermittelt ein falsches Bild. Das möchten wir ergänzen und erneuern und zeigen, wie vielfältig und global verflochten etwa die Stadt Zürich und ihre Akteur:innen sind. Es ist interessant, genauer hinzuschauen und zu erfahren, warum diese Objekte hier sind und welche Mechanismen dahinterstecken. Nicht nur Museen haben koloniale Sammlungen, sondern auch Familien und Firmen. Die Frage, inwiefern kolonialen Strukturen bis heute nachwirken, betrifft also die ganze Gesellschaft. Die Ausstellung soll zum Nachdenken anregen, für historische Fragen sensibilisieren und den Horizont erweitern.

Das klingt anspruchsvoll. Wie schwierig war es, diesen Kontext in bestehende Räume zu integrieren?

Die Interventionen verlangtem vom gesamten Kuratorium eine umfassende und gemeinschaftliche Planung. Die ausgewählten Objekte wollten wir nicht mehr isoliert auf dem Sockel zeigen, sondern in Verbindung mit Quellen, mit den Archivalien, die sonst nebenher gelesen werden: Fotografien, Texte, Kaufbelege, Briefe etc. Sehr sorgfältig geplant, auch in der Gestaltung und Architektur, war die Präsentationsweise innerhalb der Sammlungen.

Wir haben uns für grosse modulartige Vitrinen entschieden, die flexibel die unterschiedlichsten Objekttypen vereinen konnten, stellenweise Durchblick gewähren und sich gut in die Räume der Sammlungen einfügen. Es hat viele Stationen, Exponate, Geschichten und Texte, wir bieten eine nachhaltige und langfristige Auseinandersetzung an. Die Ausstellung kann auch in mehreren Etappen besucht werden, die Geschichten und Module sind in sich geschlossen und man kann sich gut vereinzelt darin vertiefen. Die Ausstellung wurde zuerst auf ein Jahr angesetzt, mittlerweile haben wir nochmals um ein Dreivierteljahr verlängert.

Sie haben auch ein auf Kinder zugeschnittenes Angebot. Das jüngste Publikum ist oft noch wenig vertraut mit der Museumswelt. Was möchten Sie ihm mit auf den Weg geben?

Wir möchten das Bewusstsein wecken, dass die Objekte unserer Sammlung nicht einfach immer schon da waren und dass man diese Wege nachzeichnen kann. Den Blick dafür schärfen, dass Kunstschaffen sehr unterschiedliche Facetten haben kann, und vor Augen führen, dass es Spuren gibt, die man lesen kann und verschiedene Menschen und Motivationen hinter der Verbringung der Werke ins Museum stecken.

Wie waren die Reaktionen bisher auf die Ausstellung?

Wir haben tolles Feedback auch aus der Fachwelt bekommen. Und das Publikum hat im Schlussraum der Ausstellung mit Sitzecke und kleiner Bibliothek die Möglichkeit, konkret Rückmeldungen zu geben, ihre Reaktionen und Überlegungen zu hinterlassen. «Kultur ist viel mehr als der europäische Blick», war da unter anderem zu lesen. Oder es wurde die Frage der Restitution gestellt. Wir schätzen dieses Feedback. Ein Teil der Post-its ist auf der Website einsehbar. Diese Rückmeldungen nehmen wir mit in die Arbeit an künftigen Ausstellungen.


Autorin: Katharina Flieger