Auf den Spuren von Harald Naegeli

Das Musée Visionnaire lädt anlässlich seiner Naegeli-Ausstellung dazu ein, Naegeli-Graffitis im Zürcher Stadtraum zu entdecken und auf einer digitalen Plattform zu dokumentieren. Ein lebendiges, partizipatives Projekt, bei dem neue und alte Fans sogar vom Künstler selbst vergessene Graffitis finden und fotografieren.

Vorhandenes, Entferntes und Vergessenes wiederaufzuspüren, das erlaubt die vom Zürcher Musée Visionnaire lancierte Online-Plattform «Die Spuren des Sprayers von Zürich» (sprayervonzürich.com), die auf der VMS-Jahrestagung 2021 vorgestellt wurde. Die Graffitis von Harald Naegeli (*1939) polarisieren, seit er in den 1970er Jahren begann, seine schwarzen Strichfiguren an Mauern und Fassaden in der Stadt Zürich zu hinterlassen. Doch wer weiss, wann und wo der Künstler seine Zeichnungen hingesprayt hat und welche davon immer noch im Stadtraum anzutreffen sind?

Gemeinsam Naegeli im öffentlichen Raum finden und dokumentieren

Harald Naegeli selbst hat seine Sprayereien kaum dokumentiert – die Polizei, Medien und Privatpersonen hingegen schon. Um diesen Schatz zu heben, initiierten die Harald Naegeli Stiftung und das Musée Visionnaire anlässlich der Ausstellung «Harald Naegeli – der bekannte Unbekannte» im Jahr 2021 ein partizipatives digitales Archiv. Unterstützt wurde das Vorhaben von der Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte. Diese fördert Projekte, die mehr Partizipation am Kulturerbe erlauben, insbesondere in den Bereichen «Sammeln» und «Bewahren». Genau dort setzt das digitale Archiv an. Die leicht zu bedienende Plattform lädt dazu ein, eigene Aufnahmen der vergänglichen Arbeiten des Künstlers hochzuladen, wodurch das digitale Archiv kontinuierlich wächst. Dank der Kooperation mit Privaten und Institutionen wie dem Kunsthaus Zürich, in dessen Sammlung sich die frühen schwarz-weissen Polizeiaufnahmen nun befinden, oder dem Bildarchiv der ETH-Bibliothek kommen sukzessive auch Digitalisate historischer Bilder hinzu. Zahlreiche bisher nicht öffentlich dokumentierte Werke konnten so digital gesichert werden. Neben dokumentarischen Handyfotos gibt es auch Aufnahmen, die mit professionellem Blick oder mit einem Augenzwinkern inszeniert worden sind.

Typisch für Naegelis Strichfiguren ist der Einbezug von Objekten aus der Umgebung. Nicht selten werden Verkehrsschilder oder Briefkästen in seine Werke integriert. Dieses Spiel mit der Umgebung nehmen auch die Nutzerinnen und Nutzer der digitalen Plattform auf. In ihren Fotografien interagieren sie mit den Naegeli-Graffitis und inszenieren sie im Stadtraum. Die Plattform ermöglicht eine neue Form der Auseinandersetzung. Naegeli-Fans werden einerseits zu digitalen Kuratoren und Kuratorinnen, die den künstlerisch-ästhetischen Reiz der Werke für sich interpretieren, andererseits zu Archivarinnen und Archivaren, die sich mit Zuschreibungs-, Datierungs- und Beschreibungsfragen auseinandersetzen.

Die auf der Plattform dokumentierten Spuren des Sprayers von Zürich führen von der Vergangenheit bis in die Gegenwart und geben einen Einblick in die Veränderungen im Stadtraum. Die Verortung der sichtbaren oder bereits verschwundenen Graffitis auf einer interaktiven Karte bietet die Möglichkeit, den von Naegeli bespielten Stadtraum zu entdecken.

Digitale Erweiterung des Ausstellungsraums

Damit eine digitale Plattform zu einer Schnittstelle zwischen der Museumsausstellung, den Graffitis im Aussenraum und der öffentlichen Beteiligung wird, sind eine aktive Kontaktaufnahme und die Pflege der Community erforderlich. Mit einem Verweis auf das digitale Archiv in der Ausstellung, mit Naegeli-Spaziergängen, Spezialanlässen im Museum und dem Kontakt zu langjährigen Naegeli-Fans über die Stiftung wird ein breites Spektrum von Personen angesprochen.

Die Umsetzung des Projekts erfolgt aus einem sozialen Prozess heraus, mit verschiedenen Anknüpfungspunkten und persönlichem Austausch, sodass es zu einer Identifikation mit dem Museum, dem Werk des Künstlers und zu einer aktiven Beteiligung kommt.

Ebenso wie Exponate in immer wieder neuen Konstellationen in Ausstellungen gezeigt werden, um unterschiedliche Aspekte zu beleuchten, geht es hier um ein Weiterdenken dieses Wissensraums und dessen nahtlose Erweiterung um die digitale Dimension. Die Frage, ob ein digitales Angebot einen Museumsbesuch ersetzt, stellt sich gar nicht erst, wenn sich die Nutzung der digitalen Technologie basierend auf einem soliden Konzept in das Gesamtgefüge der Tätigkeiten und Ziele einer Institution eingliedert. Gelingt es, verschiedene Bereiche wie das Kuratieren, die Kunstvermittlung und Outreach-Bestrebungen miteinander zu verzahnen und auf eine strikte Trennung des realen und virtuellen Raums zu verzichten, kann ein digitales Angebot entstehen, das sich in ein sinnvolles Ganzes fügt.

Bei der Naegeli-Plattform funktioniert das gut. Das liegt daran, dass das Thema sowohl in der dreiteiligen Ausstellung «Harald Naegeli – der bekannte Unbekannte» aufgegriffen wird als auch niederschwellig im öffentlichen Raum anzutreffen ist und schliesslich Outreach-Massnahmen und Partizipation zum Aufbau einer engagierten Community beitragen. Aktivität im Digitalen ist nicht an die Grösse einer Institution gebunden. Schnell reagieren zu können und mit verhältnismässig wenig Ressourcen ein gut überschaubares Projekt zu lancieren, kann sogar eine Stärke von kleineren Museen sein. Zum Erfolg trug auch die Zusammenarbeit des Musée Visionnaire mit dem Künstler über dessen Stiftung bei, wodurch die notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen zusammenkamen.

Während des Lockdowns im Frühling 2020 haben die als Totentanz im Stadtraum aufgetauchten Strichmännchen einmal mehr für Aufruhr gesorgt, aber auch die Verleihung des Kunstpreises der Stadt Zürich veranlasst. Die Aufmerksamkeit ist Harald Naegeli weiterhin gewiss. Das digitale Naegeli-Archiv wächst unter der Beteiligung der Öffentlichkeit zu einer Art virtuellem Museum für vergängliche Kunst, das über die Ausstellung hinaus relevant bleibt: als Werkverzeichnis für die Harald Naegeli Stiftung, aber auch als Ausgangspunkt für das Musée Visionnaire, um den Künstler weiterhin zu thematisieren. Wenn im Jahr 2022 die denkmalgeschützten Sprayereien nach der Sanierung der Tiefgarage der ETH wieder zugänglich werden, wird das Musée Visionnaire das Naegeli-Thema erneut mit Spaziergängen aktivieren.

Sonja Gasser