Die Schweizer Museumszeitschrift

Museumszeitschrift Nr. 25

Facettenreiches Kulturerbe in Bild und Text: Wir wollten wissen, welche Schritte inzwischen zur Umsetzung der neuen Nationalen Strategie zum Kulturerbe getan wurden und entwirren das komplexe Geflecht beteiligter Akteur:innen und Strukturen. Dabei zeigt sich, dass das «Konzept zur Pflege des Kulturerbes der Schweiz» noch wenig bekannt ist. Ändern sollen dies unter anderem ein «Nationales Forum für das Kulturerbe» und ein «Kulturerbekompass». Ein besonderes Kulturerbe steht auch im Fokus der Bilderstrecke: der Stiftsbezirk St. Gallen, der zum Weltkulturerbe der UNESCO gehört. Weitere Beiträge bieten Einblick in zwei Engadiner Museen und das Museu de Arte Moderna in Rio de Janeiro, ein geschichtsträchtiger Ort mit besonderer Architektur.  

Museumszeitschrift Nr. 25

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Die Schweizer Museumszeitschrift ist das Magazin für die Mitglieder von VMS und ICOM Schweiz. Sie informiert über die Aktivitäten der Verbände und die aktuelle Kulturpolitik, stellt ausgewählte Fachliteratur vor und wirft in Bildstrecken einen Blick hinter die Kulissen der Museen in der Schweiz. Die Zeitschrift erscheint zweimal jährlich in einer mehrsprachigen Ausgabe. Die wichtigsten Artikel sind in ihren Übersetzungen auf museums.ch verfügbar.

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Übersetzungen

Es ist ein Miteinander und ein Nebeneinander

Die Digitalisierung hat ihren festen Platz im Museumsalltag. Im Interview erzählen drei Frauen, wie sie die Digitalisierung in ihren Institutionen umsetzen: Nicole Seeberger als Direktorin des Bündner Kunstmuseums ist via Zoom in die Arvenstube des Engadiner Museums eingeladen worden. Dort hat sie sich gemeinsam mit der Betriebsleiterin Allegra Giorgi und der Delegierten des Stiftungsrats, Patrizia Guggenheim, den Fragen der Journalistin Fadrina Hofmann gestellt. 

Welchen Stellenwert hat die Digitalisierung in Ihren beiden Häusern? 

Nicole Seeberger: Die Digitalisierung begleitet uns heute selbstverständlich neben dem analogen Museumsbesuch. Seit Corona haben wir ein spezielles Augenmerk auf digitale Angebote gelegt und bauen sie immer weiter aus. 

Patrizia Guggenheim: Seit der Renovierung, also seit 2016, hat die Digitalisierung auch bei uns Fahrt aufgenommen. Wir haben heute Tablets, mit denen unsere Gäste alle Stuben besuchen können. Auf ihnen werden die Einrichtung und auch die Geschichte des Museums in sieben Sprachen erklärt. 

Allegra Giorgi: Unsere aktuelle Sonderausstellung ist ebenfalls in dieses Programm integriert. Ausserdem bieten wir die Möglichkeit, mit dem Smartphone QR-Codes zu den Texten und Fotos zu scannen, die auf den Tablets des Engadiner Museums abgerufen werden können. 

NS: Wir haben im Bündner Kunstmuseum Angebote vor Ort und ortsunabhängige Online-Angebote auf unserer Webseite. Vor Ort haben wir den Audioguide in fünf Sprachen, teilweise auch bereits in Leichter Sprache. Zusätzlich gibt es den Textguide als Zwischenlösung. Er ersetzt die Texte zu ausgewählten Werken der Sammlung, die wir lange auf Papier hatten. Das heisst, es gibt jetzt QR-Codes bei den Legenden, die man scannen und dann die Texte lesen kann. Langsam, aber sicher bewegen wir uns in die digitale Welt. Online gibt es den Sammlungskatalog und auch einen virtuellen 3D-Rundgang durch die Räume der beiden Häuser. Ausserdem stellen wir alle Hörstücke des Audioguides und Podcasts zu den Ausstellungen zur Verfügung. Wir bemühen uns, unsere Sammlung online abzubilden, mit Texten zu den Werken und Angaben zu den Provenienzen. 

Wer ist bei Ihnen für die digitalen Inhalte zuständig? 

NS: Bei uns ist das eine Zusammenarbeit von mehreren Abteilungen. Unsere Kommunikationsabteilung betreut unsere Webseite. Für die Podcasts zu den Ausstellungen sind der Bündner Kunstverein und die Kurator:innen zuständig, und der Audioguide wird von den Mitarbeitenden erstellt, die mit der Sammlung arbeiten. 

PG: Das ist bei uns ähnlich. Die Kurator:innen erstellen die Texte zu den Sonderausstellungen und unsere Mitarbeitenden kümmern sich um die Digitalisierung im Engadiner Museum. 

Hat es durch die Digitalisierung neue Stellenprofile gegeben? 

NS: Nein, aber wir mussten uns diversifizieren. 

PG: Genau, man musste flexibler werden. 

Stärkt die Digitalisierung die Effizienz des Museumsbetriebs? 

NS: Sie macht den Betrieb nicht effizienter, aber diversifizierter. Ein Ausbau benötigt natürlich mehr Ressourcen. Wir sind klar der Meinung, dass digitale Angebote einen Museumsbesuch nicht ersetzen können, aber es kann vor Ort ein Nebeneinander sein. 

PG: Ja, die Digitalisierung benötigt mehr Ressourcen. Aber digitale Inhalte sind beliebt bei jenen Besucher:innen, die sich vertiefter mit der Ausstellung auseinandersetzen und sie selbstständig erkunden möchten. Parallel dazu bieten wir aber noch analoge Führungen an und diese sind rege besucht. 

Wie stark werden die digitalen Angebote von den Besucherinnen und Besuchern genutzt? 

AG: Sehr stark. Die Tablets sind im Eintrittspreis inbegriffen. 90 Prozent der Besuchenden nehmen sie mit und schätzen das Angebot auch. Die Stuben und ihre Objekte sind digital erfasst, jedes einzelne Objekt kann man anklicken und so seine Geschichte erfahren. Es ist ein spielerisches Element. 

NS: Bei uns ist es ein Miteinander und ein Nebeneinander. Unsere öffentlichen Führungen sind sehr gut besucht. Wir haben aber auch Tagestourist:innen, die zum Beispiel bei schlechtem Wetter ins Bündner Kunstmuseum gehen und die Audioguides rege nutzen. Es sind verschiedene Anspruchsgruppen, die digitale Angebote in Anspruch nehmen, öffentliche Führungen besuchen oder beides miteinander verbinden. Den Audioguide gibt es nur zu ausgewählten Werken der Sammlung, nicht zu aktuellen Ausstellungen. Diese versuchen wir in den Podcasts zu thematisieren. 

Gibt es auch ein Onlinearchiv? 

NS: Ja, der Sammlungskatalog und der Audioguide mit allen Hörstücken sind online archiviert und kostenlos abrufbar. Das Museumsarchiv ist bei uns nicht öffentlich zugänglich. 

AG: Wir haben ein digitales Archiv, das wir auf Anfrage zugänglich machen. 

PG: Wir haben uns bereits überlegt, ob wir das Museumsarchiv online schalten könnten, aber die Kosten sind zu hoch. 

Erreicht man mit digitalen Angeboten das junge Publikum eher als mit analogen? 

AG: Wir hatten zuletzt Schüler:innen des Gymnasiums hier, denen wir einen Zugangscode für unser Archiv gegeben haben. Es hat ihnen Spass gemacht, damit zu arbeiten. Aber sie hatten auch Freude am Museumsbesuch. 

NS: Ich kann diese Frage auch nicht mit Ja oder Nein beantworten. Wir haben noch die Kunstvermittlung mit Angeboten wie Workshops und Kunstgesprächen. Je nach Thema oder Ausstellung arbeiten wir multimedial. 

Wie wichtig ist es, in den Sozialen Medien präsent zu sein? 

PG: Das ist sehr wichtig. Seit wir mehr auf diesen Plattformen sind, haben wir mehr Besuchende, auch junge. Wir haben zudem das Glück, junge Mitarbeitende zu haben, die Digital Natives sind und fit in der Arbeit mit Social Media. 

NS: Es gehört heute einfach dazu, auf diesen Plattformen präsent zu sein. Bei uns teilen sich die Abteilungen Kommunikation und Kunstvermittlung diese Arbeit und füttern unsere Social-Media-Kanäle. Natürlich könnte man noch viel mehr machen, aber das ist immer eine Frage der Ressourcen.  

Welche Bedeutung hat die Digitalisierung für das Marketing? 

PGMarketing funktioniert fast nur noch über digitale Kanäle. Inserate schalten wir nur noch selten. Flyer haben wir aufs Postkartenformat reduziert, die Inhalte können per QR-Code abgerufen werden. 

AG: Wir arbeiten eng mit St. Moritz Tourismus und den Hotels im Tal zusammen. Einmal im Jahr werben wir auch in Seilbahnen und Postautos. 

NS: Wir sind analog und digital unterwegs. Der digitale Bereich ist für das Marketing sehr wichtig und wird immer wichtiger. Von Ausstellung zu Ausstellung planen wir die Werbemassnahmen neu. 

Ist das Zeitalter der Plakate vorbei? 

PG, AG, NS gleichzeitig: Nein! 

PG: Wir drucken Plakate zu den Wechselausstellungen für uns intern, für Hotels und andere Interessierte. Es gehört einfach dazu, Plakate zu drucken. 

Künstliche Intelligenz ist in aller Munde. Welchen Umgang pflegen Sie mit KI? 

PG: Einen lockeren Umgang. 

AG: Patrizia ist meine Lehrerin. (lacht) 

PG: Ich arbeite vor allem mit ChatGPT und nutze es gelegentlich im administrativen Bereich. Die Inhalte muss man aber selbst vorgeben. 

AG: Da meine Muttersprache nicht Deutsch ist, nutze ich KI für Übersetzungen, zum Beispiel beim Briefeschreiben. Die Übersetzungen sind fast perfekt. 

NS: Auch wir nutzen für kurze Übersetzungen KI, sind aber noch sehr zurückhaltend. Die Texte, die wir produzieren, stammen von uns selbst. Wir tragen schliesslich eine grosse Verantwortung für unsere Inhalte. 

Gibt es digitale Projekte, die Sie in naher Zukunft realisieren möchten? 

AG: Ständig kommen neue Objekte zur Sammlung hinzu, die wir digitalisieren. Es ist eine Arbeit, die nicht aufhört. Toll wäre, alles online zu stellen, aber dafür fehlen die finanziellen Mittel. Ein so kleines Museum wie das Engadiner Museum kann sich das nicht leisten. 

NS: Ein grosses digitales Projekt des Bündner Kunstmuseums ist das Fotoarchiv, das dringend ins 21. Jahrhundert überführt werden muss. In diesem Zusammenhang wollen wir auch unsere Reproduktionsdienstleistungen effizienter gestalten. Ein weiteres Projekt ist die Erweiterung des Audioguides in Leichter Sprache. 

Fadrina Hofmann

Die hohe Politik pusht das Kulturerbe

Nimmt die Nationale Strategie zum Kulturerbe der Schweiz bald Fahrt auf? Am ersten Nationalen Forum für Kulturerbe, das im Herbst mit 150 Teilnehmenden stattfinden soll, könnten die Segel gesetzt werden. 

Vor über einem Jahr verabschiedete der Bundesrat die Kulturbotschaft 2025–2028 und benannte darin sechs Handlungsfelder – darunter die Bewahrung, Weiterentwicklung und Vermittlung des materiellen, immateriellen und digitalen Kulturerbes der Schweiz. Unter dem Oberbegriff «Kulturerbe als lebendiges Gedächtnis» soll eine engere Kooperation und Koordination der Kulturpolitik in der Schweiz gefördert werden. Die Kompetenzen von Kantonen, Städten, Gemeinden und Kulturverbänden als Akteure der Kulturförderung bleiben dabei gewahrt. 

Die verschiedenen Ebenen der Kulturpolitik zur Bewahrung des Kulturerbes zu koordinieren und zu vernetzen, ist in der föderalistischen Schweiz alles andere als einfach. Zudem hat sich der Begriff des Kulturerbes stark erweitert. Sprach man bis weit ins 20. Jahrhundert hinein noch fast ausschliesslich von «Denkmälern» oder «Monumenten», für die eine Art Heimatschutz galt, so umfasst das Kulturerbe heute alle materiellen und immateriellen Kulturgüter, einschliesslich der digitalen Dimension. 

Konkret reicht die Palette somit von Baudenkmälern wie Kirchen oder Schlössern über Kunstwerke wie Gemälde und Skulpturen bis zu archäologischen Ausgrabungsstätten. Fast unüberschaubar vielfältig ist das immaterielle Kulturerbe, das unter anderem Bräuche, Sprachen, Tänze und Kulinarik beinhaltet. Die Liste der lebendigen Traditionen der Schweiz als Formen des Kulturerbes weist mittlerweile weit mehr als 200 Einträge auf, zu denen auch Mundarten wie Berndeutsch oder die Zürcher Technokultur gehören. Oft sind die Übergänge zwischen materiellem und immateriellem Kulturerbe fliessend: Die Masken der für das Lötschental typischen Tschäggättä erhalten ihre wahre Bedeutung beispielsweise nur durch die dortige (lebendige) Karnevalskultur.

Zur Kooperation ermutigen

«Voraussetzung dafür, dass das Kulturerbe seine gesellschaftspolitische Dimension entfalten kann, ist seine Erhaltung», schreibt der Bundesrat in seiner Kulturbotschaft, die das Parlament mehrheitlich zwischen Juni und September 2024 beraten hat. Angesichts der komplexen Herausforderungen sollen die Akteure ermutigt werden, enger zusammenzuarbeiten. Wie das strategisch zu erreichen ist, zeigt das «Konzept zur Pflege des Kulturerbes der Schweiz» auf. Es geht auf eine Motion der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Ständerates zurück und wurde im November 2023 verabschiedet. 

Dieses «Kulturerbe-Konzept» wurde vom Nationalen Kulturdialog erarbeitet, einem 2011 ins Leben gerufenen Gremium. In ihm vertreten sind der Bund mit dem EDI und dem BAK, die Kantone mit der kantonalen Erziehungsdirektoren-Konferenz (EDK) und der Konferenz der kantonalen Kulturbeauftragen (KBK), die Städte mit dem Schweizerischen Städteverband (SSV) und der Städtekonferenz Kultur (SKK) sowie die Gemeinden mit dem Schweizerischen Gemeindeverband (SGV). 

Eine fachliche Arbeitsgruppe, bestehend aus Vertreter:innen dieser Ebenen und Verbände, formulierte mit dem Konzept 17 Empfehlungen, von denen zwei prioritär umgesetzt werden sollen. Erstens: Ein Nationales Forum für das Kulturerbe; also ein regelmässiges Forum, das den Austausch und die Harmonisierung fördert. Es bringt Behörden aller Staatsebenen, repräsentative Organisationen des Kulturerbes und seiner Berufe, relevante Stiftungen und Wissenschaftsbereiche sowie weitere repräsentative Strukturen der Zivilgesellschaft zusammen. Zweitens: Der Kulturerbekompass. Eine noch zu bestimmende Institution soll einen Kulturerbekompass erarbeiten, der eine Übersicht über bereits heute bewahrte und gepflegte Bereiche des Kulturerbes bietet, aber auch allfällige Doppelspurigkeit und Lücken aufzeigt.

Forum auf Kurs, beim Kompass klemmts noch

Die Vorbereitungen für das erste Nationale Forum für das Kulturerbe sind bereits weit fortgeschritten, berichtet Marco Eichenberger, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Sektion Museen und Sammlungen im Bundesamt für Kultur (BAK) und Sekretär der Arbeitsgruppe Kulturerbe. «Ende Herbst oder Anfang Winter 2025 wird es sehr wahrscheinlich in Winterthur stattfinden», so Eichenberger. Erwartet werden rund 150 Teilnehmende, etwa Vertreter:innen des Bundessarchives, des Bundesamtes für Statistik, Pro Helvetia, Unesco oder des Bundesinventars für historische Verkehrswege, aber natürlich auch von kantonalen Fachstellen wie Kantonsarchive oder der Denkmalpflege. Das Zielpublikum besteht ausschliesslich aus Fachleuten. 

Kulturschaffende oder Vertreter:innen von Institutionen wie Regionalmuseen sollen an diesem Anlass noch nicht teilnehmen. Denise Tonella, Direktorin des Schweizerischen Nationalmuseums, sieht im Nationalen Forum eine wichtige Massnahme zur Vernetzung der zahlreichen Akteurinnen und Akteure: «Es stellt eine Chance dar, um den Austausch zu fördern, das Wissen über das Kulturerbe der Schweiz zu sichern und gemeinsame Herausforderungen zu klären.»  Das sieht auch Eichenberger so: «Zeigt sich etwa, dass 10 Institutionen an ähnlichen Digitalisierungsprojekten arbeiten, können durch eine Vernetzung Synergien oder auch Einsparungen geschaffen werden.»

Der Kulturerbekompass, der als zweite Priorität im Konzept zum Kulturerbe festgelegt wurde, kommt bislang nicht recht vom Fleck. Er soll als Steuerungsinstrument dienen, um Fördermassnahmen besser abzustimmen und «blinde Flecken» in der Kulturerbe-Landschaft zu entdecken. Gemeint sind damit Bereiche, die kaum im Fokus stehen oder vernachlässigt werden. Als Beispiel nennt Marco Eichenberger das industrielle Kulturerbe, also Spuren der Industrialisierung der Schweiz wie ehemalige Fabriken. «In der Erhaltung, Bewahrung und Förderung des industriellen Kulturerbes hinkt die Schweiz im internationalen Vergleich weit hinterher», sagt etwa der Luzerner Museumsexperte Kilian T. Elsasser. Handeln, Unterstützen und Vernetzung sei nötig.

«Dass es mit dem Kulturerbekompass etwas harzt, liegt auch an der aktuell angespannten Finanzsituation», führt Eichenberger aus. Der Bund könne den Kompass nicht allein stemmen, es brauche neue Finanzierungsmodelle wie Public-Private-Partnerships. «Doch da stehen wir noch am Anfang», so Eichenberger. 

Aus Sicht von Denise Tonella stellt die Verzögerung beim Kulturerbekompass vor allem eine Herausforderung für Kantone, Städte und Gemeinden dar, die für die regionale Kulturpolitik zuständig sind: «Der Kompass wird für sie ein wichtiges Instrument sein, um eine Übersicht über das vorhandene Kulturerbe sowie über jene Bereiche zu erhalten, die bisher vernachlässigt wurden», so ihre Einschätzung. Für die Museen sei der Kulturerbekompass ebenfalls wichtig, vor allem um einen Überblick über die zu erschliessenden Lücken zu erhalten, wozu auch Museen einen Beitrag leisten können. Innerhalb der Museumslandschaft sei das Wissen über das aufbewahrte Kulturerbe hingegen weitgehend bereits gut erschlossen, ergänzt Tonella mit Blick auf ihre eigene Institution: «Wir sind auf das Bewahren von Kulturerbe spezialisiert, haben ein breites Netzwerk im musealen Bereich und fachspezifisches Know-how in der Pflege von mobilen Kulturgütern.»

Strategie zu wenig bekannt

Neben der Umsetzung der priorisierten Massnahmen bleibt es ein wichtiges Ziel, die Strategie zum Kulturerbe auf allen Ebenen bekannter zu machen. Dass dies nötig ist, zeigt eine kleine Umfrage dieser Zeitschrift: Auf der untergeordneten Ebene der kulturellen Akteure ist die Kulturerbe-Strategie bisher kaum angekommen. 

Der Erfolg der Nationalen Strategie hängt nach Einschätzung von Denise Tonella auch davon ab, wie gut es gelingen wird, Kräfte zu bündeln. «Das Kulturerbe-Konzept zielt darauf ab, Instrumente zu entwickeln, die einen umfassenden Überblick und einen transversalen Ansatz zur Pflege des Kulturerbes ermöglichen und den Umgang mit den Zeugnissen der Vergangenheit vereinfachen. Das ist eine Herausforderung, denn das Kulturerbe ist vielschichtig», konstatiert Tonella. Es gebe zahlreiche Sammlungen und Bestände, die noch nicht erschlossen seien. «Ausserdem wirft die Bewahrung des immateriellen und digitalen Kulturerbes neue Fragen auf, die noch nicht alle beantwortet sind.» 

Deutlich wird diese Problematik beispielsweise bei digitalen Datenträgern und Speichermedien, wie sie etwa die Nationalphonothek zur Speicherung von Musiktiteln verwendeten, aber auch viele Museen zur Erfassung ihrer Bestände. Die Haltbarkeit gebrannter CDs beträgt beispielsweise nur 5 bis 10 Jahre; für DVDs sind es immerhin 10 bis 30 Jahre. Die Institutionen stehen unter Druck, damit auf solchen Trägern erfasste Bestände nicht verloren gehen.

Gerhard Lob

Preisgekröntes Zentrum für experimentelle Kunst und Gegenkultur

Das Museu de Arte Moderna in Rio de Janeiro ist ein aussergewöhnlicher Ort, und das nicht nur wegen seiner besonderen Lage und Architektur. Es ist ein Ort, an dem sich die Wege von Kunst und Politik immer wieder kreuzten.

Können Sie sich vorstellen, dass die mächtigsten Männer und Frauen der Welt gemeinsam eine Ausstellung moderner Kunst besuchen? Dem brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva gelang dieses Kunststück im vergangenen November, als er die Staats- und Regierungschefs zum G20-Gipfel im Museu de Arte Moderna (MAM) in Rio de Janeiro empfing. Zwei Tage lang tagten sie dort, umgeben von 60 ausgewählten Kunstwerken namhafter brasilianischer Künstler:innen des 20. und 21. Jahrhunderts wie Tarsila do Amaral, Di Cavalcanti, Carlos Vergara oder Sebastião Salgado.

Die Verbindung von Politik und Kunst sei heute selten geworden, sagt Pablo Lafuente, der künstlerische Leiter des MAM. Früher, als Rio noch Brasiliens Hauptstadt war, war das MAM ein Symbol des Landes. Präsident Juscelino Kubitschek (1956–61) empfing nach der Eröffnung des ersten Bauabschnitts 1958 gerne Staatsgäste im MAM. Auch die britische Königin Elisabeth II. wurde 1968 im Museum empfangen. Danach ging diese Tradition verloren – bis jetzt: «Dank des G20-Gipfels schaute die ganze Welt wieder auf das MAM», sagt Lafuente. Für den Gipfel renovierte die Stadt das MAM aufwendig.

Aufmerksamkeit erhielt das Museum Ende 2024 auch von anderer Stelle: Vom International Committee for Museums and Collections of Modern Art (CIMAM) wurde es für seine innovative Arbeit im Bereich der Barrierefreiheit ausgezeichnet. Das Programm umfasst neben einem Residenzprogramm mit Stipendium für zwei Fachpersonen mit Behinderungen und der Entwicklung experimenteller barrierefreier Technologien für alle Ausstellungen auch eine laufende Reihe von Museumsbesuchen, die gemeinsam mit Gruppen und Institutionen aus dem Bereich der Barrierefreiheit organisiert werden, sowie eine jährlich stattfindende Konferenz, die sich der Diskussion über Barrierefreiheitspraktiken im Kunstfeld widmet. Die Jury würdigte den fortschrittlichen und langfristigen Ansatz zur Barrierefreiheit, der Selbstbestimmung und kontinuierliche Repräsentation im institutionellen Kontext in den Mittelpunkt stellt. «Indem Menschen mit Behinderungen aktiv in Entscheidungsprozesse eingebunden werden, fördert das Programm strukturellen Wandel und dient als inspirierendes Modell für Museen, die Barrierefreiheit als festen Bestandteil ihrer Arbeitsweise begreifen wollen.» 

Ein Ort der Inspiration und der Ruhe

Zum Museum, entworfen vom Architekten Affonso Eduardo Reidy (1909–64), gehören auch die Gärten, die der brasilianische Landschaftsarchitekt Roberto Burle Marx (1909–94) gestaltete. Reidy und Burle Marx zählten Mitte des 20. Jahrhunderts zu den grossen Namen der brasilianischen Moderne. Reidy plante die Umgestaltung des Stadtzentrums von Rio, bei der Hügel abgetragen wurden, um Platz zu schaffen. Den Schutt kippte man ins Meer, verbreiterte so den Strand und gewann eine neue Fläche, den «Aterro do Flamengo». Burle Marx gestaltete dessen Parkanlagen. Als erstes Gebäude auf dem neuen Gelände entwarf Reidy das MAM, bestehend aus zwei miteinander verbundenen Gebäuden. 1958 wurde der zweistöckige «Bloco Escola» eingeweiht, der auch Raum für Workshops bietet. 1967 folgte der «Bloco de Exposições», das Ausstellungsgebäude. 

An 14 Stahlbetonstützen pro Seite aufgehängt, scheint das Gebäude zu schweben. Unter ihm öffnet sich der Blick auf die von sanften Hügelketten eingerahmte Guanabara-Bucht, auf deren gegenüberliegender Seite der mächtige Zuckerhut den Ausgang zum Atlantik bewacht. Jugendliche nutzen den Raum unter dem schwebenden Museumskörper, um Tanzschritte einzustudieren. Es ist ein Ort der Ruhe, nur wenige hundert Meter vom hektischen Zentrum entfernt, von dem das Aterro durch eine vielspurige Schnellstrasse abgetrennt ist. Nur ab und zu wird die Stille durch das Donnern der Flugzeuge unterbrochen, die auf dem in die Bucht gebauten Flughafen Santos Dumont starten und landen.

Folgenreicher Widerstand

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Brasilien auf dem Weg in die Moderne. Startpunkt war die «Woche der modernen Kunst», die 1922 in São Paulo stattfand und an der Künstler:innen wie Di Cavalcanti und Anita Malfatti teilnahmen. Weitere Impulse erhielt die modernistische Bewegung Ende der 1940er-Jahre. In Rio de Janeiro gründeten 1948 wohlhabende Kunstliebhaber – inspiriert vom Museum of Modern Art (MoMA) in New York – das MAM. «Brasilien orientierte sich damals kulturell an den USA», erzählt Lafuente, «und das MAM entstand in einem Moment, in dem sich Brasilien architektonisch und kulturell neu konfigurierte.» Dazu zählte auch die Errichtung der neuen Hauptstadt Brasília, tief im Landesinnern. Mit dem Umzug 1960 verliert verlor Rio den Hauptstadtstatus, während São Paulo zur grössten Stadt des Landes und zur dominierenden Wirtschaftsmetropole aufsteigtaufstieg. Bis heute hat sich Rio davon nicht erholt, es verharrt weiter in einer tiefen Sinnkrise. 

Die Kulturhauptstadt Brasiliens sei Rio jedoch geblieben, urteilt Lafuente. Hier entstand Ende der 1950er-Jahre die Neo-Concrete-Bewegung mit Künstler:innen wie Lygia Clark, Hélio Oiticica und Lygia Pape, die im MAM ausstellten und unterrichteten. Die Akteur:innen der neuen Kunstbewegung glaubten an Kreativität als Ausdruck von Freiheit. So wurde das MAM in den Jahren der Militärdiktatur (1964–85) zu einem Zentrum für experimentelle Kunst und Gegenkultur. Die Cafeteria im Innenhof des MAM war damals ein Treffpunkt intellektueller Kreise, darunter die Grössen des «Cinema Novo» um den Filmemacher Glauber Rocha. Auch das Museum selbst war in jenen dunklen Jahren Teil des Widerstands. So wurden in den Regalen der Cinemathek zensierte Filme vor den Häschern des Regimes versteckt. Möglicherweise zahlte das MAM dafür einen hohen Preis – der verheerende Brand, der im Juli 1978 die Hälfte der Bestände vernichtete, könnte ein Sabotageakt der Diktatur gewesen sein, so eine Theorie. 

Dem Feuer fielen fast alle Werke des uruguayisch-spanischen Malers Joaquín Torres García, eines der wichtigsten Vertreter der lateinamerikanischen Moderne, zum Opfer. Auch Werke von Picasso, Dalí, Magritte, Miró, Portinari, Di Cavalcanti und anderen gingen in Flammen auf. Ein schwerer Schlag für das MAM, das seine Bestände erst seit den 1990er-Jahren durch Ankäufe und Schenkungen wieder aufbauen konnte. Heute umfasst die Sammlung 16 000 Werke moderner und zeitgenössischer Künstler:innen aus dem In- und Ausland, darunter die Sammlung von Gilberto Chateaubriand und rund 1800 Werke des brasilianischen Fotografen Joaquim Paiva. Die Cinemathek ist die zweitgrösste Brasiliens, und die Bibliothek umfasst 70 000 Bücher zur Kunstgeschichte.

Kunst in Verbindung mit der Welt

Die spektakuläre Architektur des MAM zeigt sich auch im Inneren. Im «Salão Monumental» (Monumentalsaal) stellte Reidy den Kunstschaffenden eine acht Meter hohe Wand zur Verfügung. «Dabei gab es damals niemanden, der Werke in dieser Höhe in Museen ausgestellt hat», sagt Lafuente. Das sei ein Massstab, der selbst heute im Museumsbau kaum vorstellbar sei und den Ehrgeiz der damaligen Zeit widerspiegele. 

Weil ihm bewusst war, dass das Museum der Landschaft im Wege stand, machte Architekt Reidy es durchlässiger und setzte neben dem Freiraum unter dem Gebäude auch auf grosse Fensterflächen. «Für ihn verbesserten sie auch die ästhetische Erfahrung, weil das wechselnde Tageslicht die ausgestellten Werke reicher erscheinen lässt», so Lafuente. Damit hebt sich das MAM deutlich vom MoMA mit seinem White-Cube-Konzept ab, das in der modernen Kunst zum Standard wurde und das Kunsterlebnis visuell von der Welt isoliert. «Hier ist es umgekehrt: Kunst wird besser, wenn sie mit der Welt verbunden ist. Für einen Kurator ist das ein Segen, denn es zwingt dich, alles, was du tust, in Bezug auf die Umgebung zu denken – die Bucht und die Stadt mit all ihren sozialen Problemen. Kunst lebt in der Welt, und du musst beides miteinander verbinden.»

Thomas Milz