George Washingtons ehemaliger Landsitz Mount Vernon im US-Bundesstaat Virginia ist ein Zentrum des Personenkults um den ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten. Hier lebte er, hier arbeitete er – vor allem aber arbeiteten hier versklavte Menschen. Diese dunkle Seite Washingtons wurde lange Zeit ausgeklammert. Seit einigen Jahren wird sie aber auf Anregung der afroamerikanischen Gemeinschaft auch für die Besucher:innen des Freilichtmuseums thematisiert.
Über Mount Vernon geht die Morgensonne auf. Das Freilichtmuseum auf dem Anwesen des ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten bietet einen atemberaubenden Anblick mit alten Eichen, Blumenbeeten und Obstgärten. Besuchergruppen schlendern auf fein geharkten Sandwegen, Schulklassen nerven ihre Lehrer:innen. Jährlich besuchen etwa eine Million Menschen dieses nationale Heiligtum 20 Kilometer südwestlich von Washington, D. C., im Bundesstaat Virginia. Auf riesigen 200 Hektaren, das entspricht etwa 280 Fussballfeldern, sind neben dem Gutshaus auch Stallungen, Parks und Gärten, eine Whiskeydestillerie, eine Schmiede und weitere Werkstätten zu besichtigen – sowie Sklavenbehausungen. Der repräsentative Landsitz des Präsidenten war auch eine florierende Plantage. Seit 1858 ist er in Privatbesitz und wird nicht, wie sonst bei national bedeutenden Kulturdenkmälern in den USA üblich, vom staatlichen National Park Service geführt. Eigentümerin mit fast 400 Angestellten ist die Mount Vernon Ladies’ Association, die älteste private Denkmalpflegeorganisation in den USA.
Zentrum des Freilichtmuseums ist Washingtonsd reigeschossiges Herrenhaus Mount Vernon Mansion mit 21 Zimmern im Kolonialstil. 1754 pachtete der ehrgeizige Landvermesser Washington das Anwesen, bevor er es sieben Jahre später kaufen sollte. Als US-Präsident erweiterte er es dann zu einem repräsentativen Landsitz. Washington sah sich selbst in erster Linie als Landwirt. «Er war überzeugt, dass die US-amerikanische Landwirtschaft die beste der Welt sein könnte; dafür testete er neue landwirtschaftliche Methoden», erklärt Julie Almacey, die im Freilichtmuseum für Medien und Kommunikation zuständig ist. Der Autodidakt Washington hatte nie eine Universität besucht – er liess sich Bücher aus England schicken und informierte sich über in den Kolonien noch unbekannte Fruchtfolgen.
Die Räumlichkeiten des Herrenhauses können in kleinen geführten Gruppen besichtigt werden. Auratische Objekte und Artefakte aus Washingtons Leben gibt es hier viele: Originalmöbel, auf denen persönliche Briefe und Notizen liegen, sollen authentisch wirken. Dazu Kunstgegenstände, Porzellanservices, aber auch aufgeschlagene Bücher und geodätische Instrumente. Alles gleicht dem Reliquienschrein eines Heiligen, scheinbar unangetastet seit Washingtons Tod: der Versuch, das Universum des George Washington mit Alltagsgegenständen wieder einzufangen.
Der Schlüssel der Bastille und ein Gebiss
Im Flur ist ein berühmtes Geschenk ausgestellt, das der französische Revolutionär Marquis de Lafayette, Mitstreiter im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, 1789 seinem väterlichen Freund überlassen hatte: der Schlüssel der Bastille aus Paris – verhasstes Symbol der Unterdrückung für die Französische Revolution. Bis heute ein Renner bei den Besucher:innen ist George Washingtons Gebiss. Der ruhmreiche General im Unabhängigkeitskrieg und Mitautor der Verfassung hatte schlechte Zähne. 1789, bei der Vereidigung als erster US-Präsident, soll er nur noch einen einzigen Zahn besessen haben. Washington gab insgesamt vermutlich sechs Zahnprothesen in Auftrag. Als Rohmaterial dienten Elfenbein, Pferde- und Kuhzähne sowie auch Zähne von Menschen.
Washington strebte die Unabhängigkeit von England an und förderte den Aufbau einer neuen demokratischen Gesellschaft. Er verteidigte die amerikanischen Kolonien gegen Grossbritannien, trat nach zwei Amtszeiten freiwillig zurück und spielte eine wichtige Rolle bei der Schaffung sowie der Ratifizierung der US-Verfassung. Gleichzeitig besass er über 300 Sklavinnen und Sklaven, beutete sie aus, vermietete und verkaufte sie. «Washington», sagt Tourguide Brenda Parker, die ich auf dem Rundgang begleite, «hielt sich für einen gütigen Sklavenhalter, aber seine moralischen Ideale kamen erst an zweiter Stelle.» Diese Charaktereigenschaft Washingtons wird auf Mount Vernon an verschiedenen Stellen sichtbar, Tourguides wie die Afroamerikanerin Parker weisen in ihren Führungen auf diese Ambivalenz hin.
Brenda Parker stimmt das berühmte Spiritual «Go Down Moses» an, daseinst von versklavten Menschen gesungen wurde. Mit Haube und Schürze wie eine Haussklavin gekleidet, leitet sie eine geführte Tour zu Alltag und Leben der versklavten Menschen auf Mount Vernon. Gerade führt sie eine Schulklasse zum Upper Garden Greenhouse. Der aus Ziegeln und Glas gefertigte Bau besitzt grosse, helle Fenster sowie eine Heizungsanlage. Washington hatte ein solches Treibhaus in Baltimore gesehen und sich die Pläne dafür schicken lassen. Seine Doppelmoral wird hier auch architektonisch sichtbar: Neben dem modernen Gewächshaus, in dem fortschrittliche Technologie genutzt sowie exotische Nutzpflanzen gehegt und gepflegt wurden, stehen die ärmlichen, schlecht gegen die Witterung isolierten Sklavenbehausungen. Viele der Schüler:innen sind erstaunt, unter welch unwürdigen Bedingungen die Menschen hier untergebracht wurden und dass Kinder versklavter Menschen auf dem Boden schlafen mussten – bloss eine Wand von den Tropenpflanzen entfernt.
Weniger Personenkult, mehr ungeschönte Aufarbeitung
Um den Betrieb am Laufen zu halten, hatten afroamerikanische Frauen, Männer und Kinder bis zu 14 Stunden am Tag auf den Feldern zu schuften. Sie trieben zudem Vieh zusammen und kochten und putzten für die Hausherren. Wehrten sie sich dagegen, drohten Körperstrafen. Der Gründervater der USA als Sklavenhalter – eine Tatsache, mit der sich die Nation und die Kuratoren von Mount Vernon nur langsam anfreunden konnten. Die damalige Sklaverei war eine Institution, ein System der Ausbeutung, der Ungleichheit, in dem man Menschen wie Eigentum besass und sie mit körperlicher sowie seelischer Gewalt unterdrückte; ein System, das Menschen wie George Washington rechtfertigten, obwohl sie wussten, dass Sklaverei moralisch falsch war.
Nach Washingtons Tod blieb das Thema Sklaverei und Zwangsarbeit auf Mount Vernon für Besucher:innen jahrzehntelang ausgespart. Seine Aufarbeitung begann erst 1983 mit der Restaurierung des verfallenen ehemaligen Sklavenfriedhofs. Seitdem bemüht sich die Mount Vernon Ladies’ Association, auch dunkle Aspekte in der Biografie Washingtons hervorzuheben. Dieser Prozess beinhaltete in den 1980er-Jahren sowohl systematische Forschungen als auch partizipative Ansätze, die zunehmend die Perspektiven von People of Color einbezogen. Über die Jahre legten sie mit archäologischen Grabungen die Spuren der Lebensbedingungen der Sklaven frei. Zunächst konzentrierte man sich darauf, die Anzahl der versklavten Menschen und mehr über ihre täglichen Aufgaben und ihre Lebensbedingungen in Erfahrung zu bringen. Ab den 1990er-Jahren wurde verstärkt versucht, dieses Wissen in die Führungen und Ausstellungen einfliessen zu lassen. Nachfahr:innen versklavter Menschen spielten dabei eine massgebliche Rolle. Historiker:innen und afroamerikanische Aktivist:innen wurden in die Gestaltung von Ausstellungen sowie Bildungsprogrammen einbezogen. Heute wird Washingtons Sklavenhaltung kritisch beleuchtet, und auf Mount Vernon gibt es Bemühungen, das Leben der Versklavten besser zu dokumentieren und in Broschüren, Ausstellungen sowie Führungen sichtbar zu machen.
1999 wurde die erste Sklavenausstellung imEducation Center eröffnet. Sie bedeutete einen Wendepunkt in der Art und Weise, wie Mount Vernon die Geschichte der Sklaverei präsentierte. Seitdem ist es den Besucher:innen möglich, mehr über die persönlichen Geschichten und Einzelschicksale versklavter Menschen zu erfahren sowie ihre Lebenswege zu verfolgen. Damit verbunden sind spezielle Führungen, Originalexponate und kostümierte Schauspieler:innen wie Brenda Parker. «Es ist ein hartes Schicksal, mit einem Pferd zusammen ge- oder verkauft zu werden», erklärt sie den Schüler:innen und hat Tränen in den Augen, als sie über den afroamerikanischen Stallmeister Peter Hardiman spricht. «Wir haben enorm viele Informationen aus den Haushaltsbüchern gefunden», so Parker. Detailverliebt hatte George Washington jede Ernte, jede Fruchtfolge, Ein- und Ausgaben sowie die Essensrationen der versklavten Menschen dokumentiert. Heute sind diese Aufzeichnungen ein Segen für Historiker:innen. So erfuhren Parker und ihre Kolleg:innen, dass Hardiman mit dem Hausmädchen Caroline Branham verheiratet war und Kinder hatte. Doch eine Ehe unter versklavten Menschen wurde damals nicht anerkannt. «Besitz kann nicht Besitz heiraten, sondern bleibt einfach hier oder dort oder wird vererbt», konstatiert Parker. So lautete das Gesetz, und unzählige Ehen wurden auseinandergerissen.
Ihre Rolle sehe sie darin, all jenen, die als stumme Zeug:innen in historischen Tabellen und Aufzeichnungen auftauchten, eine Stimme zu geben, sagt Parker. «Einige Familien waren auf Mount Vernon über Jahrzehnte und Generationen versklavt, ohne dass die Geschichtswissenschaft irgendeine direkte Äusserung von ihnen gefunden hat.» Sie fragt die Klasse: «Was machten diese Familien, die hier lebten, dem Schrecken und der Unterdrückung der Sklaverei zum Trotz?», und gibt selber die Antwort: «Sie bemühten sich, ein quasi normales Leben zwischen Rechtlosigkeit und Willkür zu führen. Damals galten sie nicht als Menschen; sie wurden wie Inventar registriert, wie Möbelstücke hin und her geschoben.»
Zweierlei letzte Ruhestätten
Auf dem Gelände befindet sich auch die letzte Ruhestätte von Washington und seiner Ehefrau Martha. In einem geschmückten Mausoleum stehen hinter einer Absperrung zwei Särge aus Marmor. Nur einen Steinwurf entfernt liegt völlig unscheinbar in einem Waldstück der Sklavenfriedhof. Bis 1860 wurden hier mehrere Hundert Afroamerikaner:innen anonym beigesetzt.
Historische Orte wie Mount Vernon werden von Leuten besucht, die kaum oder keinerlei Hintergrundwissen besitzen. Das sagt Parker aus eigener Erfahrung. «Das Anwesen ist ein Ort für Weisse und für Gäste aus dem Ausland.» Diese sähen in Washington den Menschen auf der Dollarnote oder das Monument in der Hauptstadt. «Mount Vernon ist für sie ein Ort auf der Bucket-List.» So steht auf dem Anwesen noch immer der Bauer, Soldat, Staats- und Ehemann George Washington im Vordergrund. Der Sklavenhalter wird erwähnt, die Brutalität der Sklaverei bleibt eigentümlich unsichtbar. Mehr Aufarbeitung fordert die afroamerikanische Gemeinschaft, die ihren Anteil am Aufbau und am Erfolg der USA nicht angemessen gewürdigt sieht. Stattdessen erfahre sie täglich Diskriminierung, Polizeigewalt und Rassismus, so Parker.
Die Führung ist zu Ende, inzwischen ist es Nachmittag. Das Nebeneinander von leuchtendem Heldentum und finsterer Sklaverei, das Streben nach Freiheit und die Brutalität der Zwangsarbeit sind auf dem Landgut Mount Vernon vor den Toren der US-amerikanischen Hauptstadt spürbar. Doch von den mehr als eine Million jährlichen Besucher:innen entscheidet sich bisher nur etwa jeder Zehnte für die «Slave Life Tour». «Washington wird als Gott verehrt», sagt Brenda Parker, «aber der Volksheld ist über die Jahrzehnte zu einer Marmorstatue erstarrt. Wir arbeiten daran, ihn vom Sockel zu stossen.»
Autor: Michael Marek