Die Schweizer Museumszeitschrift · Neuerscheinungen

Museumszeitschrift Nr. 24

Die USA dominierten die Medienberichterstattung der letzten Monate. In dieser Ausgabe steht allerdings nicht die Präsidentschaftswahl im Fokus, sondern ein Freilichtmuseum: George Washingtons ehemaliger Landsitz Mount Vernon im US-Bundesstaat Virginia zeigt die ambivalenten Facetten von Washingtons Präsidentschaft auf. Die Bilderstrecke bietet Einblick ins Eisen- und Eisenbahnmuseum in Vallorbe. Dort geben Vertreter:innen lebendiger Traditionen fast vergessene Kenntnisse des Schmiedehandwerks weiter. In einem weiteren Beitrag wird anlässlich des 70-Jahr-Jubiläums des Haager Abkommens der Kulturgüterschutz in der Schweiz beleuchtet. In dieser Herbstausgabe findet sich ein Beitrag zum Jahreskongress, der im August in Bern zum Thema «Spannungsfeld Nachhaltigkeit» stattfand.

Museumszeitschrift Nr. 24

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Die Schweizer Museumszeitschrift ist das Magazin für die Mitglieder von VMS und ICOM Schweiz. Sie informiert über die Aktivitäten der Verbände und die aktuelle Kulturpolitik, stellt ausgewählte Fachliteratur vor und wirft in Bildstrecken einen Blick hinter die Kulissen der Museen in der Schweiz. Die Zeitschrift erscheint zweimal jährlich in einer mehrsprachigen Ausgabe. Die wichtigsten Artikel sind in ihren Übersetzungen auf museums.ch verfügbar.

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Zum Jahreskongress: Mut zum Experiment

«Spannungsfeld Nachhaltigkeit» lautete das Thema des diesjährigen Jahreskongresses, der am 22. und 23. August im Zentrum Paul Klee in Bern stattfand. Die Veranstaltung war inhaltlich komplex, aber auch lustvoll und inspirierend – nicht zuletzt dank formaler Vielfalt, spannender Case-Studies und differenzierter Diskussionen.

Wissenschaftliche und kulturelle Institutionen tragen Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und sollten sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten einer nachhaltigen Entwicklung verpflichten – diesbezüglich herrschte Konsens unter den Referierenden. Doch was verbirgt sich im konkreten Fall hinter dem Begriff Nachhaltigkeit? Und welchen Beitrag können Museen, wissenschaftlich geführte botanische Gärten, Zoos und Naturparks tatsächlich leisten? 

Die Antworten fielen ebenso vielfältig aus wie die Institutionen, die sich dieser anspruchsvollen Frage stellten. Das Museum für Kommunikation Bern nutzte beispielsweise das Projekt «Planetopia» als Pattform für einen Dialog über Ökologie und verantwortungsvolles Leben. Selbstredend kann – und soll – nicht jede Ausstellung den Nachhaltigkeitsdiskurs so explizit adressieren. Ebenso wichtig ist, dass Museen ihre spezifischen Kulturen und Strukturen reflektieren, um den eigenen Betrieb nachhaltiger zu gestalten. Als öffentliche Institutionen erzielen sie damit eine breite Wirkung und können zur Diskussion anregen. So geschehen etwa im Zolli Basel, wo ein Löwenrudel vor aller Augen ein Zebra frass: Ob besagtes Zebra als frische Beute in der Savanne oder als totes Tier in einem Zoo von Löwen verspeist wird, löst in der Öffentlichkeit gegensätzliche Reaktionen aus. Dies ist ein Indiz dafür, wie stark die Nachhaltigkeitsbegriffe von Fachleuten und Laien, aber auch unter Fachleuten, divergieren.

Emotionen wie Mitgefühl oder «eco-anxiety», so die Erfahrung vieler Referierenden, könnten zwar zu Nachhaltigkeitszielen motivieren; um diese in der Praxis umzusetzen, brauche es indes einen rationalen Ansatz. Dass selbst faktenbasierte Strategien nicht alle Zielkonflikte ausräumen können, zeigt das Stapferhaus in Lenzburg. Es ist in einem nachhaltig gebauten, energetisch effizient betriebenen Gebäude untergebracht und besitzt kein Sammlungsdepot. Allerdings fällt bei einer solchen Institution mit kleinem CO2-Fussabdruck der Anteil des Publikumsverkehrs prozentual stärker ins Gewicht – dieser Widerspruch zwischen ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit lässt sich nicht lösen, sondern bestenfalls mit einer informierten Prioritätensetzung entschärfen.

Viele Case-Studies offenbarten Spannungen zwischen globalen und lokalen, kurz- und langfristigen, sozialen sowie ökonomischen Nachhaltigkeitszielen. Die Lösungsansätze waren vielfältig, die Überlegungen reichten von der weltweiten Klimakrise bis hin zum punktuellen Klimamonitoring im Bilderrahmen. Dass der Kongress trotz vieler unbeantworteter Fragen so ermutigend wirkte, ist auch dem Reichtum an Formaten zu verdanken: Neben Erfahrungsberichten, technischen Berechnungen, moralischen Debatten und konkreten Handlungsanleitungen gab es auch zwei Speedtalks, eine Intervention eines Klimaaktivisten und den Auftritt eines Überraschungsgasts, der als Stand-up-Comedian unterschiedliche Begriffe aus dem Publikum lustvoll zu einer Geschichte verflocht. «Mut zum Experiment, keine Angst vor kleinen Schritten», lautete das Fazit der Teilnehmenden.

Autorin: Judit Solt

Ambivalenz der Digitalisierung in Museen

Am Jahreskongress präsentierten Museumsfachleute ihre Nachhaltigkeitsprojekte und erläuterten Massnahmen, um Umweltkosten zu reduzieren. Der Anlass bot wertvolle Einsichten und Erkenntnisse.

In fünf Jahren schon sollen die Sustainable Development Goals (SDG) der Vereinten Nationen erreicht sein! Die Museen sind gefragt, ihren Beitrag zur Erreichung dieser Nachhaltigkeitsziele zu leisten. Sie umfassen neben ökologischen auch ökonomische und soziale Aspekte – entsprechend wurden am Jahreskongress Projekte sowohl zur Stärkung der sozialen Nachhaltigkeit als auch zur Senkung der Umweltkosten präsentiert. 

Ganz konkret wurde es in den beiden Speed-Talk-Runden, als die elf vertretenen Museen die Bedeutung der kleinen Schritte betonten. Im Fokus stehen auch alltägliche Entscheidungen: Nehme ich den Lift oder die Treppe? Verwende ich Papier mehrfach? Bieten wir Leitungswasser statt Mineralwasser an? Solche Fragen prägen mittlerweile die Gespräche in den Museen und können bereits einiges bewirken.

Nach der Präsentation der Museen liess das Referat von Nicôle Meehan unter dem Titel «The ecocritical digital Museum – Challenges and opportunities for digitisation» aufhorchen. Meehan fokussierte auf die ökologischen Auswirkungen der Digitalisierung und es wurde – nach dem eindringlichen Appell des Klimaaktivisten und Künstlers Dorian Sari am Vortag – nochmals deutlich: Es geht um viel, um sehr viel. 

Digitalisierung für mehr kulturelle Teilhabe

Das Bestreben der Museen, durch zunehmende Digitalisierung die kulturelle Teilhabe zu stärken, zeigt sich auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene. Ein Beispiel hierfür ist das Projekt Digital Benin, das als Prototyp für die datenbasierte Forschung in Museen gilt und an dem sich 131 Museen und Institutionen aus 20 Ländern beteiligen. Auf dessen Plattform digitalbenin.org sind die im späten 19. Jahrhundert geraubten und weltweit zerstreuten Kunstschätze aus dem Königreich Benin dokumentiert. Die Daten zu den Benin-Bronzen werden mit historischen Fotografien und Dokumentationsmaterial verknüpft. Dank der digitalen Plattform können sich nicht nur alle interessierten Edo in Nigeria und in der weltweiten Diaspora einen Überblick über ihr kulturelles Erbe verschaffen und neue Erkenntnisse gewinnen, sondern auch Wissenschaftler:innen und die interessierte Öffentlichkeit sind dazu eingeladen. Eine ähnliche Stossrichtung haben Bemühungen in Frankreich, die Sammlungen afrikanischen Kulturerbes durch freien Zugang (Open Access) zu öffnen und damit eine Dekolonisierung von Museen voranzutreiben. 

Weniger Reisen, dafür grössere Rechenzentren 

Neben ihrem Wert für die Stärkung kultureller Teilhabe bringt die Digitalisierung durchaus auch Vorteile für die Umwelt, indem sich durch digitales Arbeiten, die Schaffung digitaler Zugänge zu Sammlungen und Inhalten sowie die Durchführung von Online-Meetings anstelle von Reisen erhebliche Umweltentlastungen erzielen lassen. Jedoch geht damit stets eine massive Erhöhung von Datenmengen und Rechenleistung einher und in der Konsequenz steigen auch die Umweltkosten. 

Nicôle Meehan legte in ihren Ausführungen anschaulich dar, wie und in welchem Umfang die digitale Museumsarbeit Klima-, Umwelt- und soziale Kosten verursacht. Mit eindrucksvollen Zahlen unterstrich sie die Umweltauswirkungen der Digitalisierung: Da ist zum einen der hohe Energieverbrauch: 2022 machten digitale Technologien zwischen 8 und 10 Prozent des gesamten globalen Energieverbrauchs aus. Auch die Treibhausgasemissionen sind erheblich: 2022 waren digitale Technologien für 2 bis 4 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich, davon entfiel knapp die Hälfte allein auf die Rechenzentren. Die Datenspeicherung in diesen Zentren ist zudem sehr wasserintensiv und verbraucht täglich zwischen 11 und 19 Millionen Liter Wasser für Kühlzwecke. Ein Grossteil des CO2-Fussabdrucks im Bereich der IT entsteht allein bei der Herstellung sowie beim Vertrieb der Hardware, etwa bei der Gewinnung und dem Transport von Materialien für Bauteile wie Festplatten, Tastaturen und Chips. Und am Ende des Digitalisierungsprozesses häuft sich Elektroschrott an: Im Jahr 2022 wurden weltweit über 62 Millionen Tonnen E-Waste produziert, was einen Anstieg von 82 Prozent innerhalb von zwölf Jahren bedeutet. 

Soziale Aspekte nicht vernachlässigen

In der Technologiedebatte häufig ausser Acht gelassen werden die erheblichen sozialen Auswirkungen, betonte Meehan. So werden etwa beim Abbau von Seltenen Erden Schadstoffe und Schwermetalle freigesetzt, die Menschen und Umwelt gleichermassen belasten. Dieselbe Problematik ergibt sich bei der Verwertung des Elektroschrotts, der bei unsachgemässem Recycling oder illegaler Verarbeitung für die direkt beteiligten Arbeiter:innen toxisch sein kann. Nicôle Meehan fordert, dass diese Aspekte der Digitalisierung bedacht und interdisziplinär mit den aktuellen Debatten um Dekolonisierung und Postkolonialismus verknüpft werden. Die Tatsache, dass die Betroffenen oft Kinder sind, sollte Anstoss geben für weitere Anstrengungen, ist sie überzeugt.

Viele Institutionen haben Nachholbedarf

Wo aber ansetzen? Meehan berichtete von ihrem Forschungsprojekt «Encode Muse» an der britischen Universität St. Andrews zu den Umweltkosten der Digitalisierung in Museen. Im Rahmen des Projekts führte sie eine Umfrage durch, an der sich 97 Museen und andere Kulturinstitutionen aus der ganzen Welt beteiligten. Auf die Umfrage folgten ein Online-Workshop und ein strategisches Treffen von Personen mit Schlüsselkompetenzen, die sich derzeit mit den Auswirkungen des Einsatzes digitaler Technologien in Kultureinrichtungen auf die Umwelt beschäftigen. 

Die Umfrageergebnisse zeigen auf, dass bei weitem nicht alle Institutionen der Umweltverträglichkeit Priorität einräumen. Es sind noch grosse Anstrengungen nötig, um die Umweltauswirkungen der Institutionen zu verstehen und die internen Diskussionen über die ökologische Nachhaltigkeit digitaler Aktivitäten zu intensivieren. Besonders herausfordernd ist das Fehlen verlässlicher Daten, aufgrund derer eine sinnvolle Strategie zur Datenaufbewahrung entwickelt werden könnte. Auch im Beschaffungswesen mangelt es an Wissen zur Nachhaltigkeit von Hardware, dies gilt auch für die Vergabe von Dienstleistungsaufträgen. Nicht zuletzt fehlt es vielen Kulturinstitutionen an Finanzmitteln und Ressourcen sowohl für Nachhaltigkeitsprojekte als auch für die Erneuerung von Datenbanken und Hardware. Für einen Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit müssen zudem die Mitarbeitenden ihr Verhalten verändern, etwa bei der Vervielfältigung und Speicherung von Bildmaterialien. Auch dafür braucht es grosse Anstrengungen in den Organisationen. Und schliesslich gilt es, sich mit den Erwartungen des Publikums an die digitale Zugänglichkeit von Sammlungen auseinanderzusetzen.

Es braucht Checklisten, Richtlinien und einen grossen Willen 

Trotz der immensen Herausforderungen appellierte Meehan nicht zum Verzicht, vielmehr fordert sie ein gemeinsames Nachdenken über die ökologischen Konsequenzen der Digitalisierung und die Suche nach Effizienzsteigerung mit Blick auch auf Klimagerechtigkeit. Meehan betonte die Notwendigkeit, die Umweltkosten im Digitalisierungsprozess systematisch zu erfassen und zu analysieren. Bei einem Digitalisierungsprojekt solle der Aspekt der Nachhaltigkeit im gesamten Prozess mitberücksichtigt werden, also bereits bei der initialen Entscheidung für die Digitalisierung, dann bei der Beschaffung von Hardware und Datenbanken, bei der Digitalisierung selbst sowie bei den Entscheidungen, welche Daten wie aufbewahrt und veröffentlicht werden. 

Meehan kündigte die Entwicklung eines Mapping-Toolkits an, das Museen bei der Identifizierung von Einsparpotenzialen und der Optimierung ihrer digitalen Projekte unterstützen soll. In übergeordnetem Sinne wird damit auch die Entwicklung neuer organisationaler Richtlinien zur Digitalisierung angeregt, welche den Wert digitaler Projekte für verschiedene Zielgruppen hervorheben und die Bemühungen zur Entkolonialisierung digitaler Museumsräume stärken.

In der Schweiz leistet die Initiative Happy Museums einen wichtigen Beitrag zu einer nachhaltigen Zukunft im Museums- und Ausstellungssektor. Seit Herbst 2023 steht ein kostenloser CO2-Rechner für Museen zur Verfügung und in einer Checkliste werden konkrete Massnahmen vorgeschlagen. Die Digitalisierung ist ein wichtiger weiterer Aspekt, der vertieft diskutiert und mit konkreten Massnahmen zur Reduktion der Umweltkosten weiterentwickelt werden muss. Mit dem Zielkonflikt zwischen breiter Zugänglichkeit und Teilhabe einerseits und der Senkung der Umweltkosten andererseits werden sich künftig alle Museen bei ihren Digitalisierungsprojekten beschäftigen müssen. 

Autorin: Katrin Rieder

Kulturgüterschutz – so aktuell wie lange nicht mehr

1954 wurde das Haager Abkommen zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten unterzeichnet. Heute hat es vor dem Hintergrund aktueller Kriege und der durch den Klimawandel bedingten Unwetterereignisse neue Dringlichkeit erhalten.

Die Bilder machten Eindruck im Sommer 2023: Ein riesiger Schuttkegel von Gesteinsbrocken unterschiedlichster Grösse bedeckte den Hang bis an die Grenze des Bündner Bergdorfs Brienz/Brinzauls. Die Häuser blieben verschont – anders als von Fachleuten befürchtet, die grosse Schäden erwartet hatten. So wurden vor dem grossen Sturz nicht nur die Menschen evakuiert, sondern auch das wichtigste Kulturgut des Ortes, der 500-jährige Flügelaltar der Kirche St. Calixtus.

Als in der Nacht auf den 16. Juni 1,2 Millionen Kubikmeter Geröll Richtung Tal donnerten, befand sich der Flügelaltar bereits in Sicherheit. Das wertvolle Objekt war in über hundert Einzelteile zerlegt, beschriftet, verpackt und an einen geheimen Ort gebracht worden, wo es in den Folgemonaten gleich restauriert wurde. Koordiniert wurde die Evakuierung der Altarrückwand vom Fachbereich Konservierung und Restaurierung der Hochschule der Künste Bern unter der Leitung von Prof. Dr. Karolina Soppa, in enger Zusammenarbeit mit der Kantonalen Denkmalpflege Graubünden und dem Amt für Militär und Bevölkerungsschutz Graubünden. Dafür wurden die Verantwortlichen mit dem Förderpreis 2024 der Schweizerischen Gesellschaft für Kulturgüterschutz (SGKGS) ausgezeichnet.

«Die Öffentlichkeit interessiert sich nur, wenn mal wieder irgendwo eine Kirche brennt»

Die SGKGS steht in engem Zusammenhang mit dem Haager Abkommen für den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten von 1954. Sie wurde zehn Jahre später gegründet und fördert seither Bestrebungen, das kulturelle Erbe der Schweiz intakt und sicher an nachfolgende Generationen zu überliefern. Dies tut sie, indem sie hilft, «den Schutz des kulturellen Erbes gegen die Zerstörungen bewaffneter Konflikte wie auch gegen die Schädigungen durch zivilisatorische und ökologische Katastrophen, Notlagen, Kri­minalität oder Achtlosigkeit der Gesellschaft zu sichern», wie auf der Website zu lesen ist. Ein Engagement, das selten wahrgenommen wird, wie der Co-Präsident der SGKGS, Flavio Häner, erklärt: «Immer wenn irgendwo eine Kirche brennt, ist das Thema kurz in der Öffentlichkeit, danach interessiert es kaum jemanden und bleibt ein Nischenthema.» Dabei wäre ein breiteres Bewusstsein wichtig, betont Häner: «Kulturgüter vermitteln ein Gefühl von Zugehörigkeit und Kontinuität. Zudem sind sie wichtige Speicher von Informationen. Ihr Verlust ist oft nicht direkt spürbar, sondern wirkt sich über Generationen aus.» 

Dieser Verlust und die zentrale Rolle, die Kulturgüter für eine Gesellschaft haben können, wurde jüngst erneut auf dramatische Weise in der Ukraine deutlich. Der Krieg zeigt, dass Kulturgüter systematisch ins Visier genommen werden. Die Angriffe zielten dabei direkt auf die kulturelle Identität der Bevölkerung ab, mahnt Flavio Häner. «Diese Gefahr muss angesichts der heutigen hybriden Kriegsführung mit dem Ziel der Destabilisierung von Gesellschaften auch in der Schweiz ernst genommen werden. Kulturgüter sind aufgrund ihrer exponierten Stellung und oft öffentlichen Zugänglichkeit leichte Ziele, insbesondere für Sabotage oder Anschläge.»

Um dieser Gefahr zu begegnen, sind hierzulande verschiedenste Akteur:innen gefordert – das Bundesamt für Kultur (BAK), das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS), die Eidg. Kommission für Kulturgüterschutz sowie kantonale Stellen und Netzwerke wie die SGKGS. Eine übergreifende Zusammenarbeit ist bei dem Thema zentral. Dies wurde besonders deutlich an der Konferenz, die anlässlich des 70-Jahr-Jubiläums der Haager Konvention am 2. Juli in Brüssel von der SGKGS mitorganisiert wurde. Sie hatte zum Ziel, Empfehlungen gegenüber der Europäischen Union für einen grenzüberschreitenden Kulturgutschutz in Europa zu erarbeiten. An dem Anlass nahm auch Cécile Vilas teil, Präsidentin der Eidg. Kommission für Kulturgüterschutz und Direktorin Memoriav. Es sei interessant gewesen zu sehen, wie die an der Konferenz beteiligten Länder die Organisation des Kulturgüterschutzes seit 1954 unterschiedlich angegangen seien, berichtet Vilas. «Zentral waren jedoch die gemeinsamen Ziele, die diskutiert, gewichtet und sehr pragmatisch angegangen wurden: Themen wie Kompetenzaufbau und Training, Informationsaustausch und Zusammenarbeit und weiterhin auch Sensibilisierung wurden alle als prioritär angeschaut.»

Darüber hinaus zeigt sich Vilas beeindruckt von Aleida Assmanns Beitrag zu Kulturerbe und kulturellem Gedächtnis. Die Kulturhistorikerin leitete darin den Kulturerbebegriff aus der Zeit der Französischen Revolution her, beschrieb ihn in seiner aktuellen – technischen, kulturellen und politischen – Dimension und wies auf die Dringlichkeit politischer Grundlagen auf Ebene der EU hin. 

Die Schweiz hat eine Vorreiterrolle

Hinsichtlich der politischen Grundlagen nimmt die Schweiz im internationalen Vergleich eine Vorreiterrolle ein. 1962 trat sie dem Haager Abkommen bei und erstellte bereits 1966 mit einem Bundesgesetz die Rahmenbedingungen und eine wichtige Grundlage. Nach einer Totalrevision trat 2015 das «Bundesgesetz über den Schutz der Kulturgüter bei bewaffneten Konflikten, bei Katastrophen und in Notlagen» (KGSG) in Kraft, das auch Naturkatastrophen einschliesst. Für Cécile Vilas eine wichtige Errungenschaft: «Dass der Kulturgüterschutz in der Schweiz über ein eigenes Gesetz verfügt, ist im Vergleich mit anderen Ländern bemerkenswert. Mit den pragmatischen Herangehensweisen in den Kantonen, der Arbeit der Eidgenössischen Kulturgüterschutzkommission, die sich zunehmend mehr vernetzt, sowie mit den regelmässig aktualisierten Kulturgüterschutz-Inventaren kann die Schweiz international sehr viel erprobtes Know-how weitergeben.» 

Aus dieser Vorreiterrolle leitet SGKGS-Co-Präsident Flavio Häner eine der wichtigsten Aufgaben der Schweiz in den nächsten Jahren ab, die Verstärkung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. «Dies betrifft sowohl die Kantons- als auch die Landesgrenzen. Die Schweiz sollte sich insbesondere intensiver an multilateralen Aktivitäten beteiligen und ihre Vorbildfunktion für den Kulturgüterschutz international vertreten.» 

Wie dringend notwendig dies ist, zeigen heute auch die vermehrt auftretenden klimabedingten Naturkatastrophen, von denen auch die Schweiz betroffen ist. Diese Unwetter und extremen Klimaereignisse stellten eine grosse Herausforderung dar, erklärt Flavio Häner. «Gerade die Grossflächigkeit und die Dauer solcher Ereignisse bergen grosse Gefahren, da die Menschen zuerst sich selbst schützen müssen, bevor Kulturgüter ein Thema sind. Wenn zum Beispiel das Hochwasser kommt, bleibt keine Zeit mehr, um die Kulturgüter zu evakuieren. Dann bleiben die Objekte tage- oder wochenlang im Schlamm. Umso wichtiger ist, dass die Gefahren bekannt sind und vorbeugende Massnahmen umgesetzt werden.»

Mit Blick auf die Zukunft verweist Cécile Vilas auf einen weiteren Aspekt, die digitale Transformation. Sie stellt auch den Kulturgüterschutz vor grosse Herausforderungen. «Auch Kulturgüter werden zunehmend digital und brauchen neue Schutzmassnahmen und Schutzorte. Wie viele aktuelle kriegerische Konflikte zeigen, wird materielles und digitales Kulturerbe, das ein zentraler Teil der Erinnerungskultur und der Identität von Ländern und Regionen ist, immer öfter zum Angriffsziel, sodass das Kulturerbe auch zu den kritischen Infrastrukturen gehören.» Zum Schutz von audiovisuellen Kulturgütern fand deshalb im Frühjahr eine Memoriav-Fachtagung statt – audiovisuelle und digitale Sammlungen müssten dringend im nächsten Kulturgüterschutz-Inventar separat ausgewiesen werden. 

Schutzkonzepte für Museen essenziell

Auch für die Museen gehört der Kulturgüterschutz zuoberst auf die Prioritätenliste. Schutzmassnahmen und -pläne müssen erarbeitet, Prozesse durchdacht und Notfallverbünde etabliert werden, mit denen eine enge Zusammenarbeit gefragt ist. «Die Kontakte zwischen den Museen, den Blaulicht-Organisationen, den kantonalen Kulturgüterverantwortlichen und dem Zivilschutz müssen gezielt gepflegt werden und Übungen sollten regelmässig stattfinden», fordert Vilas. Als frühere Bibliotheksleiterin ergriff die Memoriav-Direktorin mehrfach die Initiative und arbeitete eng mit der Feuerwehr und dem Zivil- und Kulturgüterschutz zusammen. «So entstanden Notfallpläne und vor allem wurden die Beteiligten mit der Institution und ihren Sammlungen vertraut gemacht. Das ist im Notfall essenziell.»

Wie essenziell das ist, wurde uns bei den Unwettern vom vergangenen Sommer im Tessin und im Wallis vor Augen geführt. Im Gegensatz zum Dorf Brienz/Brinzauls, das sich auf die drohende Gefahr vorbereiten konnte, war hier die Zerstörung trotz Warnungen nicht vorherzusehen.

70 Jahre nach dem Haager Abkommen sind Anstrengungen im Bereich Kulturgüterschutz dringlicher, als sie es in den letzten Jahrzehnten zu sein schienen. 

Autorin: Katharina Flieger

Mount Vernon: Freilichtmuseum und Touristenattraktion

George Washingtons ehemaliger Landsitz Mount Vernon im US-Bundesstaat Virginia ist ein Zentrum des Personenkults um den ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten. Hier lebte er, hier arbeitete er – vor allem aber arbeiteten hier versklavte Menschen. Diese dunkle Seite Washingtons wurde lange Zeit ausgeklammert. Seit einigen Jahren wird sie aber auf Anregung der afroamerikanischen Gemeinschaft auch für die Besucher:innen des Freilichtmuseums thematisiert.

Über Mount Vernon geht die Morgensonne auf. Das Freilichtmuseum auf dem Anwesen des ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten bietet einen atemberaubenden Anblick mit alten Eichen, Blumenbeeten und Obstgärten. Besuchergruppen schlendern auf fein geharkten Sandwegen, Schulklassen nerven ihre Lehrer:innen. Jährlich besuchen etwa eine Million Menschen dieses nationale Heiligtum 20 Kilometer südwestlich von Washington, D. C., im Bundesstaat Virginia. Auf riesigen 200 Hektaren, das entspricht etwa 280 Fussballfeldern, sind neben dem Gutshaus auch Stallungen, Parks und Gärten, eine Whiskeydestillerie, eine Schmiede und weitere Werkstätten zu besichtigen – sowie Sklavenbehausungen. Der repräsentative Landsitz des Präsidenten war auch eine florierende Plantage. Seit 1858 ist er in Privatbesitz und wird nicht, wie sonst bei national bedeutenden Kulturdenkmälern in den USA üblich, vom staatlichen National Park Service geführt. Eigentümerin mit fast 400 Angestellten ist die Mount Vernon Ladies’ Association, die älteste private Denkmalpflegeorganisation in den USA.

Zentrum des Freilichtmuseums ist Washingtonsd reigeschossiges Herrenhaus Mount Vernon Mansion mit 21 Zimmern im Kolonialstil. 1754 pachtete der ehrgeizige Landvermesser Washington das Anwesen, bevor er es sieben Jahre später kaufen sollte. Als US-Präsident erweiterte er es dann zu einem repräsentativen Landsitz. Washington sah sich selbst in erster Linie als Landwirt. «Er war überzeugt, dass die US-amerikanische Landwirtschaft die beste der Welt sein könnte; dafür testete er neue landwirtschaftliche Methoden», erklärt Julie Almacey, die im Freilichtmuseum für Medien und Kommunikation zuständig ist. Der Autodidakt Washington hatte nie eine Universität besucht – er liess sich Bücher aus England schicken und informierte sich über in den Kolonien noch unbekannte Fruchtfolgen.

Die Räumlichkeiten des Herrenhauses können in kleinen geführten Gruppen besichtigt werden. Auratische Objekte und Artefakte aus Washingtons Leben gibt es hier viele: Originalmöbel, auf denen persönliche Briefe und Notizen liegen, sollen authentisch wirken. Dazu Kunstgegenstände, Porzellanservices, aber auch aufgeschlagene Bücher und geodätische Instrumente. Alles gleicht dem Reliquienschrein eines Heiligen, scheinbar unangetastet seit Washingtons Tod: der Versuch, das Universum des George Washington mit Alltagsgegenständen wieder einzufangen.

Der Schlüssel der Bastille und ein Gebiss

Im Flur ist ein berühmtes Geschenk ausgestellt, das der französische Revolutionär Marquis de Lafayette, Mitstreiter im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, 1789 seinem väterlichen Freund überlassen hatte: der Schlüssel der Bastille aus Paris – verhasstes Symbol der Unterdrückung für die Französische Revolution. Bis heute ein Renner bei den Besucher:innen ist George Washingtons Gebiss. Der ruhmreiche General im Unabhängigkeitskrieg und Mitautor der Verfassung hatte schlechte Zähne. 1789, bei der Vereidigung als erster US-Präsident, soll er nur noch einen einzigen Zahn besessen haben. Washington gab insgesamt vermutlich sechs Zahnprothesen in Auftrag. Als Rohmaterial dienten Elfenbein, Pferde- und Kuhzähne sowie auch Zähne von Menschen.

Washington strebte die Unabhängigkeit von England an und förderte den Aufbau einer neuen demokratischen Gesellschaft. Er verteidigte die amerikanischen Kolonien gegen Grossbritannien, trat nach zwei Amtszeiten freiwillig zurück und spielte eine wichtige Rolle bei der Schaffung sowie der Ratifizierung der US-Verfassung. Gleichzeitig besass er über 300 Sklavinnen und Sklaven, beutete sie aus, vermietete und verkaufte sie. «Washington», sagt Tourguide Brenda Parker, die ich auf dem Rundgang begleite, «hielt sich für einen gütigen Sklavenhalter, aber seine moralischen Ideale kamen erst an zweiter Stelle.» Diese Charaktereigenschaft Washingtons wird auf Mount Vernon an verschiedenen Stellen sichtbar, Tourguides wie die Afroamerikanerin Parker weisen in ihren Führungen auf diese Ambivalenz hin.

Brenda Parker stimmt das berühmte Spiritual «Go Down Moses» an, daseinst von versklavten Menschen gesungen wurde. Mit Haube und Schürze wie eine Haussklavin gekleidet, leitet sie eine geführte Tour zu Alltag und Leben der versklavten Menschen auf Mount Vernon. Gerade führt sie eine Schulklasse zum Upper Garden Greenhouse. Der aus Ziegeln und Glas gefertigte Bau besitzt grosse, helle Fenster sowie eine Heizungsanlage. Washington hatte ein solches Treibhaus in Baltimore gesehen und sich die Pläne dafür schicken lassen. Seine Doppelmoral wird hier auch architektonisch sichtbar: Neben dem modernen Gewächshaus, in dem fortschrittliche Technologie genutzt sowie exotische Nutzpflanzen gehegt und gepflegt wurden, stehen die ärmlichen, schlecht gegen die Witterung isolierten Sklavenbehausungen. Viele der Schüler:innen sind erstaunt, unter welch unwürdigen Bedingungen die Menschen hier untergebracht wurden und dass Kinder versklavter Menschen auf dem Boden schlafen mussten – bloss eine Wand von den Tropenpflanzen entfernt.

Weniger Personenkult, mehr ungeschönte Aufarbeitung

Um den Betrieb am Laufen zu halten, hatten afroamerikanische Frauen, Männer und Kinder bis zu 14 Stunden am Tag auf den Feldern zu schuften. Sie trieben zudem Vieh zusammen und kochten und putzten für die Hausherren. Wehrten sie sich dagegen, drohten Körperstrafen. Der Gründervater der USA als Sklavenhalter – eine Tatsache, mit der sich die Nation und die Kuratoren von Mount Vernon nur langsam anfreunden konnten. Die damalige Sklaverei war eine Institution, ein System der Ausbeutung, der Ungleichheit, in dem man Menschen wie Eigentum besass und sie mit körperlicher sowie seelischer Gewalt unterdrückte; ein System, das Menschen wie George Washington rechtfertigten, obwohl sie wussten, dass Sklaverei moralisch falsch war. 

Nach Washingtons Tod blieb das Thema Sklaverei und Zwangsarbeit auf Mount Vernon für Besucher:innen jahrzehntelang ausgespart. Seine Aufarbeitung begann erst 1983 mit der Restaurierung des verfallenen ehemaligen Sklavenfriedhofs. Seitdem bemüht sich die Mount Vernon Ladies’ Association, auch dunkle Aspekte in der Biografie Washingtons hervorzuheben. Dieser Prozess beinhaltete in den 1980er-Jahren sowohl systematische Forschungen als auch partizipative Ansätze, die zunehmend die Perspektiven von People of Color einbezogen. Über die Jahre legten sie mit archäologischen Grabungen die Spuren der Lebensbedingungen der Sklaven frei. Zunächst konzentrierte man sich darauf, die Anzahl der versklavten Menschen und mehr über ihre täglichen Aufgaben und ihre Lebensbedingungen in Erfahrung zu bringen. Ab den 1990er-Jahren wurde verstärkt versucht, dieses Wissen in die Führungen und Ausstellungen einfliessen zu lassen. Nachfahr:innen versklavter Menschen spielten dabei eine massgebliche Rolle. Historiker:innen und afroamerikanische Aktivist:innen wurden in die Gestaltung von Ausstellungen sowie Bildungsprogrammen einbezogen. Heute wird Washingtons Sklavenhaltung kritisch beleuchtet, und auf Mount Vernon gibt es Bemühungen, das Leben der Versklavten besser zu dokumentieren und in Broschüren, Ausstellungen sowie Führungen sichtbar zu machen.

1999 wurde die erste Sklavenausstellung imEducation Center eröffnet. Sie bedeutete einen Wendepunkt in der Art und Weise, wie Mount Vernon die Geschichte der Sklaverei präsentierte. Seitdem ist es den Besucher:innen möglich, mehr über die persönlichen Geschichten und Einzelschicksale versklavter Menschen zu erfahren sowie ihre Lebenswege zu verfolgen. Damit verbunden sind spezielle Führungen, Originalexponate und kostümierte Schauspieler:innen wie Brenda Parker. «Es ist ein hartes Schicksal, mit einem Pferd zusammen ge- oder verkauft zu werden», erklärt sie den Schüler:innen und hat Tränen in den Augen, als sie über den afroamerikanischen Stallmeister Peter Hardiman spricht. «Wir haben enorm viele Informationen aus den Haushaltsbüchern gefunden», so Parker. Detailverliebt hatte George Washington jede Ernte, jede Fruchtfolge, Ein- und Ausgaben sowie die Essensrationen der versklavten Menschen dokumentiert. Heute sind diese Aufzeichnungen ein Segen für Historiker:innen. So erfuhren Parker und ihre Kolleg:innen, dass Hardiman mit dem Hausmädchen Caroline Branham verheiratet war und Kinder hatte. Doch eine Ehe unter versklavten Menschen wurde damals nicht anerkannt. «Besitz kann nicht Besitz heiraten, sondern bleibt einfach hier oder dort oder wird vererbt», konstatiert Parker. So lautete das Gesetz, und unzählige Ehen wurden auseinandergerissen.

Ihre Rolle sehe sie darin, all jenen, die als stumme Zeug:innen in historischen Tabellen und Aufzeichnungen auftauchten, eine Stimme zu geben, sagt Parker. «Einige Familien waren auf Mount Vernon über Jahrzehnte und Generationen versklavt, ohne dass die Geschichtswissenschaft irgendeine direkte Äusserung von ihnen gefunden hat.» Sie fragt die Klasse: «Was machten diese Familien, die hier lebten, dem Schrecken und der Unterdrückung der Sklaverei zum Trotz?», und gibt selber die Antwort: «Sie bemühten sich, ein quasi normales Leben zwischen Rechtlosigkeit und Willkür zu führen. Damals galten sie nicht als Menschen; sie wurden wie Inventar registriert, wie Möbelstücke hin und her geschoben.»

Zweierlei letzte Ruhestätten

Auf dem Gelände befindet sich auch die letzte Ruhestätte von Washington und seiner Ehefrau Martha. In einem geschmückten Mausoleum stehen hinter einer Absperrung zwei Särge aus Marmor. Nur einen Steinwurf entfernt liegt völlig unscheinbar in einem Waldstück der Sklavenfriedhof. Bis 1860 wurden hier mehrere Hundert Afroamerikaner:innen anonym beigesetzt. 

Historische Orte wie Mount Vernon werden von Leuten besucht, die kaum oder keinerlei Hintergrundwissen besitzen. Das sagt Parker aus eigener Erfahrung. «Das Anwesen ist ein Ort für Weisse und für Gäste aus dem Ausland.» Diese sähen in Washington den Menschen auf der Dollarnote oder das Monument in der Hauptstadt. «Mount Vernon ist für sie ein Ort auf der Bucket-List.» So steht auf dem Anwesen noch immer der Bauer, Soldat, Staats- und Ehemann George Washington im Vordergrund. Der Sklavenhalter wird erwähnt, die Brutalität der Sklaverei bleibt eigentümlich unsichtbar. Mehr Aufarbeitung fordert die afroamerikanische Gemeinschaft, die ihren Anteil am Aufbau und am Erfolg der USA nicht angemessen gewürdigt sieht. Stattdessen erfahre sie täglich Diskriminierung, Polizeigewalt und Rassismus, so Parker.

Die Führung ist zu Ende, inzwischen ist es Nachmittag. Das Nebeneinander von leuchtendem Heldentum und finsterer Sklaverei, das Streben nach Freiheit und die Brutalität der Zwangsarbeit sind auf dem Landgut Mount Vernon vor den Toren der US-amerikanischen Hauptstadt spürbar. Doch von den mehr als eine Million jährlichen Besucher:innen entscheidet sich bisher nur etwa jeder Zehnte für die «Slave Life Tour». «Washington wird als Gott verehrt», sagt Brenda Parker, «aber der Volksheld ist über die Jahrzehnte zu einer Marmorstatue erstarrt. Wir arbeiten daran, ihn vom Sockel zu stossen.»

Autor: Michael Marek

Chronik 2024

Auch 2024 standen vielfältige Jubiläen in der Schweizer Museumslandschaft an – wir durchstreifen sie von jung bis weniger jung: Das MEG Genève feiert den Abschluss der ersten Dekade im neuen Gebäude. In Genf geht es gleich weiter mit dem 40. Geburtstag des Musée Militaire Genevois – das gleiche Jubiläum begeht die Fondation de l’Hermitage in Lausanne. Das Dritte im Bunde der 40-Jährigen ist das Museum Münsingen. Für einen 50. Geburtstag geht es zurück nach Genf zum Centre d’Art Contemporain Genève. Das DIORAMA in Einsiedeln beschenkt sich zum 70. Geburtstag mit einer strategischen Neuausrichtung, das Haus soll auch zu einem Ort der Begegnungen werden. Zwei Institutionen feiern dieses Jahr ihren 75. Geburtstag: Das Musée d’art de Pully und das Museo Moesano im bündnerischen San Vittore. Schliesslich feiern gleich zwei Museen in Fribourg ihren 200. Geburtstag: das Musée d’art et d’histoire wie auch das Musée d’histoire naturelle. Herzliche Gratulation allen Feiernden! 

Ein Jubiläum samt Personalwechsel zu vermelden hat das Sensorium Rüttihubelbad: 2024 feierte es sein 20-jähriges Bestehen unter anderem mit der interaktiven Sonderausstellung «Leben ist Schwingung», massgeblich mitkuratiert von Alice Baumann, die im August 2023 die Leitung des Sensoriums übernommen hat – und nicht wie im Vorjahr an dieser Stelle kommuniziert Hans-Ueli Eggimann. Damit wären wir bei den personellen Rotationen, die erneut zahlreich ausfielen – so springen wir gleich in medias res! Anfang 2024 folgte Angelo Romano als Geschäftsleiter des Schulmuseums Bern auf Andrea Matter, im Museo di Valmaggia löste Alyce Martinoni als Kuratorin Larissa Foletta ab. Das Museum für Kommunikation ging mit Melanie Mettler als neuer Stiftungspräsidentin ins neue Jahr, die Kunsthalle Luzern mit Marius Geschinske als neuem Leiter, der diese Funktion von Michael Sutter übernahm. Christian Sidler ist seit anfangs Jahr Leiter des Museum Bruder Klaus als Nachfolger von Carmen Kiser. Im Musée de La Sagne ist Esabeau Soguel seit 2024 die Kuratorin und damit Nachfolgerin von Laurent Huguenin. Ebenfalls zum Jahresbeginn übernahm Magali Junet die Direktion der Fondation Toms Pauli von Giselle Eberhard, die in Rente ging. Nach anfänglicher interimistischer Leitung ist Marco Costantini seit Anfang 2024 Direktor des mudac. Bereits seit letztem Jahr leiten Amelie Rose Schüle das Photoforum Pasquart und Martina Huggel das Museum des Landes Glarus. Ebenfalls Ende letzten Jahres traten Lisa Schlittler als inhaltliche Leiterin und Rebecca Hauser als betriebliche Leiterin die Nachfolge von Carol Nater Cartier am Historischen Museum Baden an.

Pia Lädrach gab die Leitung des Kindermuseums Creaviva im Zentrum Paul Klee per Februar 2024 ab, im August übernahmen Katja Lang und Beat Glarner in einer Co-Leitung. Im MahN ist Laurent Langer seit Februar 2024 neuer Co-Direktor und ersetzt Antonia Nessi, die seit November 2023 das Museo Vincenzo Vela leitet. Ebenfalls im Frühjahr folgte iLiana Fokianaki als Leiterin der Kunsthalle Bern auf Kabelo Malatsie. Seit März ist Mohamed Almusibli Direktor und leitender Kurator der Kunsthalle Basel, er trat die Nachfolge von Elena Filipovic an, die wiederum die Leitung des Kunstmuseums Basel von Josef Helfenstein übernommen hat, der in Pension ging. Ebenfalls in den Ruhestand ging Benedikt Zäch als Leiter des Münzkabinetts, sein Nachfolger Gunnar Dumke trat seine Stelle im April an. Zum gleichen Zeitpunkt startete Marie Elmer als neue Geschäftsleiterin des Verbands MUSA Museen St. Gallen und folgte damit auf Celin Fässler. Ende April trat Kilian T. Elsasser als Präsident von VINTES zurück, seine Nachfolgerin ist Regula Wyss. Ebenfalls Ende April verliess Nicole Eller Risi das Tal Museum Engelberg, neue Leiterin ist Florence Anliker. Gabriele Keck ging als Direktorin des Historischen Museums Thurgau in Pension, ihre Nachfolgerin Noemi Bearth startete Anfang Mai und gab wiederum ihre bisherige Stelle als Leiterin des Ritterhauses Bubikon ab, ebenfalls an Florence Anliker. Zeitgleich wechselte Andrea Kauer Loens als Direktorin zum Liechtensteinischen LandesMuseum, ihr Nachfolger beim Rätischen Museum ist Guadench Dazzi. Im Mai erfolgte auch am Museum Zofingen ein Wechsel, hier übernahm Heidi Pechlaner Gut die Leitung von Katharina Müller. 

Sandra Bucheli löste im Juni 2024 Cornelia Renggli als Leiterin des Regionalmuseums der Luzerner Rigi-Gemeinden ab. Der Leiter der Fotostiftung Schweiz Peter Pfrunder ging ebenfalls im Juni in den Ruhestand, sein Nachfolger ist Lars Willumeit. Im gleichen Monat ging Markus Leuthard als Geschäftsführer Sammlungszentrum des Nationalmuseums in Pension, auf ihn folgte Roman Aebersold. Im Juni trat auch Irène Fiechter ihre Stelle als Kuratorin und Betriebsleiterin im Museum Thalwil an und Walter Pfister übernahm die Nachfolge von Bea Althaus im Präsidium der Heimatschutzgesellschaft im Schloss-Museum Grüningen. Im Museum zu Allerheiligen ist Gesa Schneider als Direktorin seit Juli die Nachfolgerin von Katharina Epprecht, Letztere ist neu Stiftungsrätin im Textilmuseum St. Gallen. Das Ortsmuseum Allschwil leitet seit Juli Nadja R. Buser. Am Maison d’Ailleurs folgte auf Marc Atallah per September Kurator Frédéric Jaccaud – neu in einer Doppelfunktion auch als Direktor. Gleichzeitig startete die neue Leiterin des Brugger Stadtmuseums Pascale Marder als Nachfolgerin von Rebecca Niederhauser. Per Oktober 2024 übernahm Aurélie Carré die Leitung des MEN vom interimistischen Leiter Marc-Olivier Gonseth. Zum gleichen Zeitpunkt trat Ilona Genoni Dall bei SIK-ISEA die Nachfolge des frisch pensionierten Roger Fehr als Leiterin der Abteilung Zentrale Dienste und Mitglied der Institutsleitung an und Jolanda Schärli begann ihre Arbeit als Koordinatorin der Museen im Appenzellerland als Nachfolgerin von Isabelle Chappuis. Auf Ende Oktober verliess Almut Grüner das Museum Luzern, der stellvertretende Direktor Benedict Hotz hat die Leitung interimistisch übernommen. Der langjährige Leiter des Naturmuseums Olten und seit 2019 auch Leiter des Hauses der Museen Peter Flückiger wird per Ende Oktober pensioniert, sein Nachfolger ist Samuel Furrer. 

Das letzte Kapitel handelt vom Bauen, Verändern, Öffnen oder allem zusammen: Seit Dezember 2023 ist die Sammlung des ehemaligen Gutenberg Museums in Freiburg Teil der Enter Technikwelt Solothurn in Derendingen. Auf den letzten Tag des Jahres 2023 erhielt das Zoologische Museum der Universität Zürich einen neuen Namen: Naturhistorisches Museum der Universität Zürich NMZ. Das Alpine Museum der Schweiz nennt sich seit Mai kurz ALPS, die bisherige Bezeichnung bleibt als Zusatz erhalten. Im Juni eröffnete das Musée de la mécanique d’art et du patrimoine de Sainte-Croix – kurz MuMAPS – nach zehnjähriger Bauzeit seine Tore: In ihm sind die drei ehemaligen Museen Centre international de la mécanique d’art (CIMA), das Musée des arts et des sciences (MAS) sowie das Musée Baud zusammengelegt. Mit neuem Namen und neuem Design den Umbruch markieren: Das Historische Museum Obwalden wird zum Museum Obwalden – die Änderungen sind Teil des umfassenden Transformationsprojektes «Obwalden macht Museum».