Bei einem Treffen in Lausanne haben sich Heidi Amrein, Chefkuratorin und Mitglied der Geschäftsleitung des Schweizerischen Nationalmuseums, sowie Claude-Alain Künzi, Kurator für angewandte Kunst am Historischen Museum Lausanne, bereit erklärt, dieses Thema aus dem Blickwinkel ihrer Erfahrungen und Ansichten zu beleuchten.
Im Dezember 2023 verkaufte das Museum Langmatt in Baden – eine Privatstiftung – überraschend drei seiner Cézannes und polarisierte damit die Debatte zur Deakzession. Sollte, ganz allgemein, der Abgang eines Stückes aus den Museumsbeständen stets einer festen Regel folgen, wenn die Kontexte doch unvermeidlich ganz verschieden sind?
Heidi Amrein: Wenn es sich um die Restitution von Raubkunst aus der Zeit des Nationalsozialismus handelt, dann haben wir als Leitlinie die Washingtoner Richtlinien, die auch die Schweiz unterzeichnet hat. Diese Richtlinien regeln, wie mit Objekten umgegangen wird, die in einem Kontext erworben worden sind, der heute als illegal gilt. Weniger klar ist die Situation bei Kulturgütern, die mit der Kolonialzeit in Verbindung stehen. Doch hier häufen sich die Fälle, und es wäre wünschenswert, dass uns schon bald auch hier eine internationale Konvention zur Verfügung stehen würde. In allen anderen Fällen gelten für Museen und Institutionen, die Mitglieder des Internationalen Museumsrats ICOM sind, die Ethischen Richtlinien als Rahmenbedingungen. Zurzeit werden diese Richtlinien überarbeitet; diese stellen aber schon heute sicher, dass die Debatte professionell und nicht emotional geführt wird. Die Entscheidung des Museums Langmatt wird von einigen auch als mutig bezeichnet – sie denken, dass mit dem Verkauf zur finanziellen Rettung des Museums ein Tabu gebrochen wird.
Claude-Alain Künzi: Tatsache ist, dass die Ethischen Richtlinien eine solche Vorgehensweise nicht erlauben, denn der Ertrag aus dem Verkauf muss gemäss den Richtlinien der Sammlung dienen. Zum Beispiel für einen neuen Ankauf im Rahmen einer Sammlungserweiterung oder eines Kurswechsels. Die Ethischen Richtlinien von ICOM beschreiben ausführlich das Vorgehen bei konkreten Problemen. Als Referenzwerkzeug sind sie seit langer Zeit international von grosser Bedeutung. Mit deren Einhaltung zeigen wir, dass wir mit den uns anvertrauten Objekten verantwortungsvoll umgehen.
Wenn ein Sammlungsobjekt verkauft wird, so bekommt es automatisch einen Marktwert. Es geht also nicht nur um eine ethische Frage …
HA:Vor allem, wenn esaufgrund seines finanziellen Werts veräussert wird. Das Museum, dessen Aufgabe es ist, Kulturgut zu bewahren – also in einem gewissen Sinn dem Kunstmarkt Objekte zu entziehen –, wird damit zu einer Kunstgalerie oder zu einem Auktionshaus, deren Aufgabe es ist, Werke in Umlauf zu bringen. Es handelt sich um zwei gänzlich unterschiedliche Aufgaben! Verlieren wir die historische Perspektive nicht aus dem Blick: Museen wurden unter anderem gegründet, um Kulturgut zu schützen. In diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass die Schweizerische Eidgenossenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts einen Ankaufsfonds eingerichtet hat, um den Verkauf von Kulturgütern etwa aus Kirchen ins Ausland zu verhindern, ein lukrativer Handel für Kunsthändler aus dem In- und Ausland. Und daran müssen wir auch jene Politiker:innen erinnern, die manchmal der Meinung sind, es genüge, wenn die Museen (insbesondere die Kunstmuseen) zur Mitfinanzierung des Betriebs ein Werk verkaufen sollen. Denn es liegt auch in der Verantwortung der öffentlichen Hand, bei der Annahme einer Sammlung für eine finanzielle Absicherung zu sorgen.
Die Deakzession ist auch ein riskantes Unternehmen für die Zukunft. Ein Museum könnte sich von Objekten trennen, die als marginal angesehen werden, doch vielleicht einige Zeit später wesentlich für das Verständnis unserer Gesellschaft werden …
CAK: Ein klassischer Fall ist das Musée d’Orsay mit seiner Sammlung von Werken der «pompiers» genannten Maler, die je nach Epoche hoch gelobt oder verpönt wurden. Dennoch hat man diese Werke nicht veräussert, sondern sie sind heute noch ausgestellt und tragen zur Einzigartigkeit der Pariser Institution bei. Das Historische Museum Lausanne, dessen Sammlungen seit 1902 in alle Richtungen erweitert worden sind, steht noch vor einem anderen Dilemma: Wie sollen wir mit den Abzügen von Fotografien, gängigen Büchern oder sogar Zeitungsausschnitten umgehen, die früher alle als Sammlungsobjekte aufgenommen und ordnungsgemäss inventarisiert wurden? Haben wir das Recht, sie in einen Dokumentationsfonds zu überführen? In mehr als 100 Jahren hat sich die Rolle des Historischen Museums vollkommen verändert, von einem Zentrum für alle Arten von Informationen zur Geschichte der Stadt zu einer Institution, die vorrangig Zeugnisse des Kulturerbes bewahrt. Folglich sind wir der Meinung, dass wir, in dem wir solche Änderungen vorzunehmen, die Arbeit unserer Vorgänger nicht verraten. Indem wir solche Überlegungen anstellen, können wir die Kohärenz der Sammlung analysieren und hinterfragen – oder sie neu zusammenstellen und ihr eine zeitgemässe Ausrichtung geben.
HA:Zumal die Ethischen Richtlinien es unter anderem erlauben, Objekte als Arbeitssammlungen zu klassifizieren. Das haben wir zum Beispiel mit einer Sammlung von Miniaturmöbeln gemacht, die uns einst ein Schreiner vermacht hat. Nun dienen sie den Konservierungs- und Restaurierungsteams für den Unterricht. Sollte ein Objekt einen erheblichen Schaden erleiden, so wäre eine Deakzession immer möglich.
Besteht da eine Kluft zwischen etablierten Museen und Institutionen, die auf ehrenamtlicher Arbeit basieren oder sich mit viel Geschick und Einfallsreichtum durchschlagen müssen?
CAK: Zum Teil sind die Probleme dieselben. So etwa bezüglich der knappen Depotflächen; aber die Antworten darauf und die Fragen der Veräusserung sind nicht identisch. Wenn das Chüechlihus in Langnau seine Doubletten in einem partizipativen Prozess mit der regionalen Bevölkerung «entsammelt», funktioniert das aufgrund der überschaubaren Gemeinschaft, mit der das Museum direkten Kontakt pflegen kann.
HA: Das genannte Museum bezieht sich für seine Vorgehensweise auf die neue Museumsdefinition von ICOM, in der ein wichtiger Aspekt die Partizipation der Bevölkerung ist. Aber auch wenn ich verstehen kann, dass die kleinen Museen Lösungen finden müssen, habe ich dennoch Zweifel. Für viele der Objekte, die der Öffentlichkeit auf der Website des Chüechlihus angeboten werden, gibt es keine Angaben zur Datierung oder Herkunft, aus denen Hinweise auf ihre Bedeutung und ihre Geschichte hervorgehen könnten. Ich denke auch an die Menschen, die mit einem Objekt einen Teil ihrer Geschichte hergeben. Was werden sie sagen, wenn sie sehen, dass ihre Schenkung auf diese Weise weitergegeben wird? Daher müssen wir uns im Falle einer Veräusserung ganz genau bewusst sein, was wir tun. Das ist sehr wichtig.
Was sagt man dann den schweizerischen Museen, oft den privaten, die ein schwieriges Dasein fristen oder zur Schliessung gezwungen sind? Gibt es beim Kulturgut ein Klassensystem?
CAK: Ich denke da an das Musée de Saint-Imier, das 1958 nach fast 100 Jahren geschlossen wurde – offiziell, weil es keinen Platz mehr gab, um die Sammlungen auszustellen, und inoffiziell, weil wenig Publikumsinteresse bestand. Bis dann1995 ein paar engagierte Personen die Kisten wieder öffneten, deren Inhalte interessant fanden und für die Wiedereröffnung Unterstützung durch die Gemeinde erhielten. Das beweist, dass man nie den Mut verlieren sollte. Und wenn die Schliessung eines Museums definitiv ist, müssen die Objekte auf jeden Fall ihren Weg in andere Sammlungen finden.
HA:Das war tatsächlich beim «Musée des Suisses dans le monde» und beim Schweizer Sportmuseum in Basel der Fall. Die Kolleg:innen dieser Institutionen wandten sich an andere Museen, und die Museumsgemeinschaft unternahm alles, damit die Bestände gerettet werden konnten.
Besteht da nicht das Risiko, dass sich Objekte, die bisher Exponate eines ihnen gewidmeten Museums waren, in einer allgemeineren Sammlung verlieren?
HA:Das Museum hat die Mission, seine Sammlung sichtbar zu machen, sowie die Pflicht zur Archivierung und Konservierung seines Kulturguts. Die Ausstellung repräsentiert nur eine Facette der Vermittlung ihrer Bestände an die Öffentlichkeit, daneben gibt es auch die Sammlungen online, Leihgaben an andere Institutionen, Publikationen oder Führungen in den Museumsdepots. Diese Leistungen werden auch den Donator:innen erklärt, die oft eine dauerhafte Ausstellung ihrer Objekte verlangen, was aber meistens nicht realisierbar ist.
Deakzession hat ja schon immer existiert. Beeinflusst die aktuelle Häufung der Fälle die Erwerbspolitik?
CAK: Ja, da wird schon genau darauf geachtet, vor allem bei überfüllten Depots oder angesichts der Anzahl von Objekten, die wenig oder nie ausgestellt werden. Schenkungen werden jetzt häufiger abgelehnt, und wir versuchen, so sachbezogen wie möglich zu sein, wenn wir etwas annehmen. Vielleicht sind wir uns mehr als unsere Vorgänger bewusst, wie viel Zeit, Raum und Kosten ein Neuerwerb erfordert.
Wäre nicht mehr Transparenz gefragt? Die Veräusserungen könnten doch im Jahresbericht angegeben werden, so wie es mit den Erwerbungen schon geschieht.
HA:Ja, es hatte tatsächlich Auswirkungen, als einige Fälle durch die Presse gingen. Es kamen Donator:innen auf uns zu und verlangten im Vertrag eine Zusatzklausel mit Weiterverkaufsverbot. Wie können wir in dieser Hinsicht besser kommunizieren? Die Deakzessionen in den Jahresbericht zu integrieren und sie dort zu begründen, könnte einen Weg darstellen. Doch wir müssen uns bewusst sein, dass die Kontextualisierung der Vorgänge nicht einfach sind, insbesondere wenn sich die Medien auf eine solche Angelegenheit stürzen. Das haben wir, in einem anderen Kontext, im Fall der Bührle-Sammlung erlebt.
Und auch im Fall der Versteigerung der Cézannes des Museums Langmatt. Amerikanische Museen hatten sich ja bereits zuvor für eine solche Lösung entschieden. Löste dieser Verkauf einen stärkeren Schock aus, weil er in der Schweiz stattfand? Sie beide sprechen von einer roten Linie …
HA:Wenn jemanddie Bedeutungdieses Verkaufs herunterspielt oder von einer mutigen Entscheidung spricht, finde ich das tatsächlich beunruhigend. Denn wenn ein Museum Werke verkauft, um den Betrieb zu finanzieren, enthebt es die öffentliche Hand von ihrer Verantwortung und schafft so einen Präzedenzfall, der gefährliche Folgen haben kann.
CAK: Es gibt noch eine zweite rote Linie: Wir dürfen nichts unternehmen, das den Willen der Donator:innen nicht respektiert. Es handelt sich um eine Pflicht und eine Form der Respektbezeugung, die uns veranlasst hat, in unserer Erwerbspolitik eindeutiger zu werden. Wir antworten nun mit einer Absage, wenn wir erkennen, dass wir die angebotenen Objekte nicht so behandeln können, wie sie es verdienen würden.
Autorin: Florence Millioud