Die Schweizer Museumszeitschrift · Neuerscheinungen

Museumszeitschrift Nr. 23

Das Entsammeln von Objekten sorgt immer wieder für Kontroversen. Heidi Amrein, Chefkuratorin und Mitglied der Geschäftsleitung des Schweizerischen Nationalmuseums, und Claude-Alain Kuenzi, Konservator am Historischen Museum Lausanne, bieten im Gespräch unterschiedliche Perspektiven auf die Deakzessionsdebatte. Die Bilderstrecke gewährt Einblick in eine einzigartige Tessiner Villa, das Museo Vincenzo Vela, und den Blick über die Grenzen werfen wir nach Kristiansand in Norwegen. Dort eröffnete ein Kunstmuseum in einem ehemaligen Getreidespeicher – mit dem passenden Namen Kunstsilo. Zu guter Letzt fragen wir danach, unter welchen Umständen Museen zu «Dritten Orten» werden und erläutern, wie das Konzept nördlich und südlich der Alpen verstanden wird.

Museumszeitschrift Nr. 23

Zur Publikation

Die Schweizer Museumszeitschrift ist das Magazin für die Mitglieder von VMS und ICOM Schweiz. Sie informiert über die Aktivitäten der Verbände und die aktuelle Kulturpolitik, stellt ausgewählte Fachliteratur vor und wirft in Bildstrecken einen Blick hinter die Kulissen der Museen in der Schweiz. Die Zeitschrift erscheint zweimal jährlich in einer mehrsprachigen Ausgabe. Die wichtigsten Artikel sind in ihren Übersetzungen auf museums.ch verfügbar.

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Übersetzungen

Deakzession: ein aktuelles Thema als Konsequenz der Vergangenheit

Bei einem Treffen in Lausanne haben sich Heidi Amrein, Chefkuratorin und Mitglied der Geschäftsleitung des Schweizerischen Nationalmuseums, sowie Claude-Alain Künzi, Kurator für angewandte Kunst am Historischen Museum Lausanne, bereit erklärt, dieses Thema aus dem Blickwinkel ihrer Erfahrungen und Ansichten zu beleuchten.

Im Dezember 2023 verkaufte das Museum Langmatt in Baden – eine Privatstiftung – überraschend drei seiner Cézannes und polarisierte damit die Debatte zur Deakzession. Sollte, ganz allgemein, der Abgang eines Stückes aus den Museumsbeständen stets einer festen Regel folgen, wenn die Kontexte doch unvermeidlich ganz verschieden sind?

Heidi Amrein: Wenn es sich um die Restitution von Raubkunst aus der Zeit des Nationalsozialismus handelt, dann haben wir als Leitlinie die Washingtoner Richtlinien, die auch die Schweiz unterzeichnet hat. Diese Richtlinien regeln, wie mit Objekten umgegangen wird, die in einem Kontext erworben worden sind, der heute als illegal gilt. Weniger klar ist die Situation bei Kulturgütern, die mit der Kolonialzeit in Verbindung stehen. Doch hier häufen sich die Fälle, und es wäre wünschenswert, dass uns schon bald auch hier eine internationale Konvention zur Verfügung stehen würde. In allen anderen Fällen gelten für Museen und Institutionen, die Mitglieder des Internationalen Museumsrats ICOM sind, die Ethischen Richtlinien als Rahmenbedingungen. Zurzeit werden diese Richtlinien überarbeitet; diese stellen aber schon heute sicher, dass die Debatte professionell und nicht emotional geführt wird. Die Entscheidung des Museums Langmatt wird von einigen auch als mutig bezeichnet – sie denken, dass mit dem Verkauf zur finanziellen Rettung des Museums ein Tabu gebrochen wird.

Claude-Alain Künzi: Tatsache ist, dass die Ethischen Richtlinien eine solche Vorgehensweise nicht erlauben, denn der Ertrag aus dem Verkauf muss gemäss den Richtlinien der Sammlung dienen. Zum Beispiel für einen neuen Ankauf im Rahmen einer Sammlungserweiterung oder eines Kurswechsels. Die Ethischen Richtlinien von ICOM beschreiben ausführlich das Vorgehen bei konkreten Problemen. Als Referenzwerkzeug sind sie seit langer Zeit international von grosser Bedeutung. Mit deren Einhaltung zeigen wir, dass wir mit den uns anvertrauten Objekten verantwortungsvoll umgehen. 

Wenn ein Sammlungsobjekt verkauft wird, so bekommt es automatisch einen Marktwert. Es geht also nicht nur um eine ethische Frage … 

HA:Vor allem, wenn esaufgrund seines finanziellen Werts veräussert wird. Das Museum, dessen Aufgabe es ist, Kulturgut zu bewahren – also in einem gewissen Sinn dem Kunstmarkt Objekte zu entziehen –, wird damit zu einer Kunstgalerie oder zu einem Auktionshaus, deren Aufgabe es ist, Werke in Umlauf zu bringen. Es handelt sich um zwei gänzlich unterschiedliche Aufgaben! Verlieren wir die historische Perspektive nicht aus dem Blick: Museen wurden unter anderem gegründet, um Kulturgut zu schützen. In diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass die Schweizerische Eidgenossenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts einen Ankaufsfonds eingerichtet hat, um den Verkauf von Kulturgütern etwa aus Kirchen ins Ausland zu verhindern, ein lukrativer Handel für Kunsthändler aus dem In- und Ausland. Und daran müssen wir auch jene Politiker:innen erinnern, die manchmal der Meinung sind, es genüge, wenn die Museen (insbesondere die Kunstmuseen) zur Mitfinanzierung des Betriebs ein Werk verkaufen sollen. Denn es liegt auch in der Verantwortung der öffentlichen Hand, bei der Annahme einer Sammlung für eine finanzielle Absicherung zu sorgen.

Die Deakzession ist auch ein riskantes Unternehmen für die Zukunft. Ein Museum könnte sich von Objekten trennen, die als marginal angesehen werden, doch vielleicht einige Zeit später wesentlich für das Verständnis unserer Gesellschaft werden …

CAK: Ein klassischer Fall ist das Musée d’Orsay mit seiner Sammlung von Werken der «pompiers» genannten Maler, die je nach Epoche hoch gelobt oder verpönt wurden. Dennoch hat man diese Werke nicht veräussert, sondern sie sind heute noch ausgestellt und tragen zur Einzigartigkeit der Pariser Institution bei. Das Historische Museum Lausanne, dessen Sammlungen seit 1902 in alle Richtungen erweitert worden sind, steht noch vor einem anderen Dilemma: Wie sollen wir mit den Abzügen von Fotografien, gängigen Büchern oder sogar Zeitungsausschnitten umgehen, die früher alle als Sammlungsobjekte aufgenommen und ordnungsgemäss inventarisiert wurden? Haben wir das Recht, sie in einen Dokumentationsfonds zu überführen? In mehr als 100 Jahren hat sich die Rolle des Historischen Museums vollkommen verändert, von einem Zentrum für alle Arten von Informationen zur Geschichte der Stadt zu einer Institution, die vorrangig Zeugnisse des Kulturerbes bewahrt. Folglich sind wir der Meinung, dass wir, in dem wir solche Änderungen vorzunehmen, die Arbeit unserer Vorgänger nicht verraten. Indem wir solche Überlegungen anstellen, können wir die Kohärenz der Sammlung analysieren und hinterfragen – oder sie neu zusammenstellen und ihr eine zeitgemässe Ausrichtung geben.

HA:Zumal die Ethischen Richtlinien es unter anderem erlauben, Objekte als Arbeitssammlungen zu klassifizieren. Das haben wir zum Beispiel mit einer Sammlung von  Miniaturmöbeln gemacht, die uns einst ein Schreiner vermacht hat. Nun dienen sie den Konservierungs- und Restaurierungsteams für den Unterricht. Sollte ein Objekt einen erheblichen Schaden erleiden, so wäre eine Deakzession immer möglich.

Besteht da eine Kluft zwischen etablierten Museen und Institutionen, die auf ehrenamtlicher Arbeit basieren oder sich mit viel Geschick und Einfallsreichtum durchschlagen müssen? 

CAK: Zum Teil sind die Probleme dieselben. So etwa bezüglich der knappen Depotflächen; aber die Antworten darauf und die Fragen der Veräusserung sind nicht identisch. Wenn das Chüechlihus in Langnau seine Doubletten in einem partizipativen Prozess mit der regionalen Bevölkerung «entsammelt», funktioniert das aufgrund der überschaubaren Gemeinschaft, mit der das Museum direkten Kontakt pflegen kann.

HA: Das genannte Museum bezieht sich für seine Vorgehensweise auf die neue Museumsdefinition von ICOM, in der ein wichtiger Aspekt die Partizipation der Bevölkerung ist. Aber auch wenn ich verstehen kann, dass die kleinen Museen Lösungen finden müssen, habe ich dennoch Zweifel. Für viele der Objekte, die der Öffentlichkeit auf der Website des Chüechlihus angeboten werden, gibt es keine Angaben zur Datierung oder Herkunft, aus denen Hinweise auf ihre Bedeutung und ihre Geschichte hervorgehen könnten. Ich denke auch an die Menschen, die mit einem Objekt einen Teil ihrer Geschichte hergeben. Was werden sie sagen, wenn sie sehen, dass ihre Schenkung auf diese Weise weitergegeben wird? Daher müssen wir uns im Falle einer Veräusserung ganz genau bewusst sein, was wir tun. Das ist sehr wichtig. 

Was sagt man dann den schweizerischen Museen, oft den privaten, die ein schwieriges Dasein fristen oder zur Schliessung gezwungen sind? Gibt es beim Kulturgut ein Klassensystem?

CAK: Ich denke da an das Musée de Saint-Imier, das 1958 nach fast 100 Jahren geschlossen wurde – offiziell, weil es keinen Platz mehr gab, um die Sammlungen auszustellen, und inoffiziell, weil wenig Publikumsinteresse bestand. Bis dann1995 ein paar engagierte Personen die Kisten wieder öffneten, deren Inhalte interessant fanden und für die Wiedereröffnung Unterstützung durch die Gemeinde erhielten. Das beweist, dass man nie den Mut verlieren sollte. Und wenn die Schliessung eines Museums definitiv ist, müssen die Objekte auf jeden Fall ihren Weg in andere Sammlungen finden.

HA:Das war tatsächlich beim «Musée des Suisses dans le monde» und beim Schweizer Sportmuseum in Basel der Fall. Die Kolleg:innen dieser Institutionen wandten sich an andere Museen, und die Museumsgemeinschaft unternahm alles, damit die Bestände gerettet werden konnten.

Besteht da nicht das Risiko, dass sich Objekte, die bisher Exponate eines ihnen gewidmeten Museums waren, in einer allgemeineren Sammlung verlieren?

HA:Das Museum hat die Mission, seine Sammlung sichtbar zu machen, sowie die Pflicht zur Archivierung und Konservierung seines Kulturguts. Die Ausstellung repräsentiert nur eine Facette der Vermittlung ihrer Bestände an die Öffentlichkeit, daneben gibt es auch die Sammlungen online, Leihgaben an andere Institutionen, Publikationen oder Führungen in den Museumsdepots. Diese Leistungen werden auch den Donator:innen erklärt, die oft eine dauerhafte Ausstellung ihrer Objekte verlangen, was aber meistens nicht realisierbar ist.

Deakzession hat ja schon immer existiert. Beeinflusst die aktuelle Häufung der Fälle die Erwerbspolitik?

CAK: Ja, da wird schon genau darauf geachtet, vor allem bei überfüllten Depots oder angesichts der Anzahl von Objekten, die wenig oder nie ausgestellt werden. Schenkungen werden jetzt häufiger abgelehnt, und wir versuchen, so sachbezogen wie möglich zu sein, wenn wir etwas annehmen. Vielleicht sind wir uns mehr als unsere Vorgänger bewusst, wie viel Zeit, Raum und Kosten ein Neuerwerb erfordert. 

Wäre nicht mehr Transparenz gefragt? Die Veräusserungen könnten doch im Jahresbericht angegeben werden, so wie es mit den Erwerbungen schon geschieht. 

HA:Ja, es hatte tatsächlich Auswirkungen, als einige Fälle durch die Presse gingen. Es kamen Donator:innen auf uns zu und verlangten im Vertrag eine Zusatzklausel mit Weiterverkaufsverbot. Wie können wir in dieser Hinsicht besser kommunizieren? Die Deakzessionen in den Jahresbericht zu integrieren und sie dort zu begründen, könnte einen Weg darstellen. Doch wir müssen uns bewusst sein, dass die Kontextualisierung der Vorgänge nicht einfach sind, insbesondere wenn sich die Medien auf eine solche Angelegenheit stürzen. Das haben wir, in einem anderen Kontext, im Fall der Bührle-Sammlung erlebt.

Und auch im Fall der Versteigerung der Cézannes des Museums Langmatt. Amerikanische Museen hatten sich ja bereits zuvor für eine solche Lösung entschieden. Löste dieser Verkauf einen stärkeren Schock aus, weil er in der Schweiz stattfand? Sie beide sprechen von einer roten Linie …

HA:Wenn jemanddie Bedeutungdieses Verkaufs herunterspielt oder von einer mutigen Entscheidung spricht, finde ich das tatsächlich beunruhigend. Denn wenn ein Museum Werke verkauft, um den Betrieb zu finanzieren, enthebt es die öffentliche Hand von ihrer Verantwortung und schafft so einen Präzedenzfall, der gefährliche Folgen haben kann.

CAK: Es gibt noch eine zweite rote Linie: Wir dürfen nichts unternehmen, das den Willen der Donator:innen nicht respektiert. Es handelt sich um eine Pflicht und eine Form der Respektbezeugung, die uns veranlasst hat, in unserer Erwerbspolitik eindeutiger zu werden. Wir antworten nun mit einer Absage, wenn wir erkennen, dass wir die angebotenen Objekte nicht so behandeln können, wie sie es verdienen würden.

Autorin: Florence Millioud

Das Museum als «Dritter Ort»

Museen um offene, eintrittsfreie Räume erweitern – diese Idee findet immer mehr Anklang. Südlich der Alpen ist man jedoch bislang zurückhaltender. Wie gut eignet sich das Museum tatsächlich als zweites Zuhause? 

In der laufenden Diskussion, was Museen sein sollen und welcher Stellenwert ihnen in unserer Gesellschaft zukommt, ist immer häufiger vom Museum als «Drittem Ort» die Rede. Dieser Ausdruck wird in der Regel benutzt, um eine zunehmende Öffnung anzusprechen. Es geht folglich um ein Selbstverständnis von Museen, das über die rein musealen Aufgaben hinaus reicht. In diesem Konzept wird das Museum zu einem Ort der Begegnung und des Austausches, der sich unabhängig von den im Museum gezeigten Inhalten oder Objekten entwickelt. 

Der Begriff des «Dritten Ortes» ist im englisch- und deutschsprachigen Raum mittlerweile gängig, während er südlich der Alpen – in der italienischen Schweiz oder Italien – nur vereinzelt anzutreffen ist. Offenbar hat dies kulturhistorische Gründe. «Ein derartiges museologisches Konzept entspringt einer reformiert-aufklärerischen Tradition öffentlicher Kulturpflege und ist wohl nicht zufällig im protestantischen, nordeuropäischen und nordamerikanischen Raum entwickelt worden», meint Tobia Bezzola, Direktor des Museo d‘arte della Svizzera italiana in Lugano (MASI) sowie Präsident von ICOM Schweiz.

Doch was hat es mit diesem Konzept genau auf sich? Was bedeutet «Dritter Ort»? Der Begriff geht auf den amerikanischen Soziologen Ray Oldenburg und sein 1989 publiziertes Werk «The Great Good Place» zurück. Dort zeichnet er die Bedeutung öffentlicher Orte für die Entwicklung der Gesellschaft nach. Typische Beispiele waren für ihn Cafés, Biergärten und Beizen, Coiffeursalons oder Läden, in denen dieselben Gäste regelmässig einkehren und wo über die Zeit soziale Beziehungen entstehen. 

Daheim im öffentlichen Raum

Das Zuhause ist der «Erste Ort», wo die Regeln der Familie gelten, der Arbeitsplatz der «Zweite Ort», der einer eigenen Organisationskultur unterworfen ist. Der «Dritte Ort» wird hingegen auch als «home away from home» bezeichnet, ein Zuhause neben dem eigenen Zuhause. Oldenburg nennt acht Charakteristika, die für solche Orte gelten: Sie sind neutral, hierarchielos, niederschwellig und einfach ausgestattet. Sie leben von Stammbesucher:innen, fördern die Kommunikation und stehen für eine gute Stimmung. Sie sind eine zweite Heimat.

Interessanterweise werden in Oldenburgs Theorie kulturelle Institutionen wie Bibliotheken oder Museen nicht als Beispiele für Dritte Ort aufgeführt. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten radikal geändert. «Seit etwa 2000 wird es für den englischsprachigen Bibliotheksbereich diskutiert, zehn Jahre später folgte die deutschsprachige Debatte, die sich seit einiger Zeit auch auf die Museen ausdehnt», schreibt Katharina Hoins in ihrem Essay «Das Museum als Dritter Ort: Schlagwort oder Leitbegriff?», der Ende 2021 im Buch «Museen der Zukunft» erschienen ist. 

Tatsächlich waren es Bibliotheken, die sich als erste öffentliche Kulturinstitutionen einem neuen Selbstverständnis als Dritte Orte öffneten. Die Bibliothek als Tempel des Wissens, in dem Intellektuelle in Büchern stöbern, während Grabesstille herrscht – dieses Bild gehört immer mehr der Vergangenheit an. Die neuen Bibliotheken verstehen sich als lebendige Treffpunkte und Orte des Austauschs, die aus den unterschiedlichsten Gründen aufgesucht werden.

Bibliotheken sind Vorreiter

Wie diese Neuerfindung von Bibliotheken erfolgreich gelingt, zeigt etwa das Kornhaus in Bern. Auch im Tessin findet sich ein schönes Beispiel: 2018 eröffnete in Mendrisio LaFilanda. Die ehemalige Spinnerei ist in ein Kultur- und Begegnungszentrum umgebaut worden. «Es ist die erste Räumlichkeit, die explizit gemäss den Kriterien des Dritten Ortes konzipiert worden ist», heisst es im Geschäftsbericht 2022, der auf Ray Oldenburg Bezug nimmt. Zwar ist LaFilanda auch eine Niederlassung der Kantonsbibliothek, doch ist das nur ein Aspekt. «LaFilanda ist Bibliothek, Ludothek, Videothek, Audiothek, Infothek, ein Ort für Forschung und Freizeit», heisst es in einer Selbstbeschreibung. Es gibt Versammlungsräume und ein Kursangebot. Geöffnet ist LaFilanda sieben Tage die Woche von 9 bis 21 Uhr. «Die meisten unserer Besucher:innen kommen gar nicht mit einem Buch in Berührung», sagt die Verantwortliche Agnès Pierret. Sie erzählt, dass etwa auch Arbeiter mit eigenem Picknick zum Mittagessen kämen. Ein Konsumzwang herrscht hier nicht, was LaFilanda eindeutig von kommerziellen Einrichtungen wie Starbucks oder Feltrinelli unterscheidet, die sich zwar auch als «Wohlfühlorte» eingerichtet haben, aber doch von ihrer Kundschaft den Konsum erwarten. 

Der nichtkommerzielle Aspekt von Dritten Orten wird auch von Museen unterstrichen, welche dieses Konzept zu verwirklichen suchen. In der Schweiz gilt dies insbesondere für das Museum für Gestaltung in Zürich, das im Jahr 2018 mit Schweizer Möbelklassikern wie Sesseln, Stühlen und Teppichen eine «Swiss Design Lounge» geschaffen hat. Der lichtdurchflutete Raum an der Ausstellungsstrasse mit Blick auf den Park steht allen gratis offen. «Besucherinnen und Besucher sind eingeladen, in der Lounge eine Besprechung oder einen Schwatz abzuhalten, in den Publikationen des Museums zu stöbern oder sich auf einem Sofa oder Tagesbett von den Strapazen des Alltags zu erholen», heisst es in einer Präsentation. Allerdings gelten für die Lounge die rigiden Öffnungszeiten des Museums, sie schliesst um 17 Uhr und bleibt montags gänzlich geschlossen.

Wie offen kann ein Museum sein?

Im Museum für Kommunikation in Bern gehört der Aussenraum seit der Gesamterneuerung 2017 bewusst zum Konzept einer Öffnung. Dort können sich Museumsbesucher:innen ebenso aufhalten wie andere Personen. «Er hat sich sehr bewährt und wird jetzt noch weitergedacht ins Museumsquartier», erklärt Museumsdirektorin Jacqueline Strauss. Auch in Deutschland finden sich Beispiele, in Hamburg etwa der «Freiraum» im Museum für Kunst und Gewerbe (MK&G) und die «Säulenhalle» im Altonaer Museum, in Oldenburg der «Open Space» im Landesmuseum Natur und Mensch, in Stuttgart das Stadtmuseum. «Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass mit den neuen Angeboten erfolgreich neue Gruppen angesprochen werden können», schrieb Anja Dauschek, Leiterin des Altonaer Museums, in einem Beitrag für «Politik und Kultur», die Zeitung des Deutschen Kulturrates (Ausgabe 11/2022).

Trotz aller löblichen Initiativen: Katharina Hoins stellt in ihrem erwähnten Essay auch unbequeme Fragen, etwa ob sich Museen wirklich als Dritte Orte eignen: «Wie bereits vielfach diskutiert, sind Museen mit ihren Eintrittsbarrieren, Besucherordnungen und Verhaltensregeln – von nicht essen über nichts anfassen bis zu nicht rennen – nicht unbedingt exemplarische Orte der informellen Zusammenkunft. Die Reglements scheinen Freiheit und Ungezwungenheit entgegenzustehen.» Hoins spricht daher bei den erwähnten Beispielen auch von «Auskopplungen», die sich der musealen Logik weitgehend entzögen – sowohl räumlich als auch durch ihren Projektcharakter. In den «open spaces» gehe es nicht in erster Linie um Kunsterlebnisse, sondern um eine Kultur des gesellschaftlichen Miteinanders zur kreativen Gestaltung eines guten Lebensumfelds. Anders gesagt: Museen erhalten eine Art Zusatzaufgabe in Bezug auf ihre gesellschaftliche Relevanz.

Autor: Gerhard Lob

Vom Korn zur Kunst

Das ikonische Silo am Hafen der norwegischen Stadt Kristiansand öffnete Mitte Mai in neuem Gewand seine Tore: Im einstigen Industriebau ist heute Kunst statt Getreide zu finden. 

Zehn zylinderförmige Türme, dicht aneinandergereiht, dominieren den Uferabschnitt der Insel Odderøya im Süden Kristiansands. Sie gehören zu einem in den 1930ern erbauten Speicher, angelegt als Notlager für Getreide, das damals per Schiff aus Argentinien, Kanada, den USA und Russland importiert wurde. Die Lage am Ufer von Odderøya war für das Getreidelager ideal, zumal für die Passagierschifffahrt just ein neuer Tiefwasserkai gebaut worden war, der auch Handelsschiffen nun die direkte Zufahrt ermöglichte. Das neu errichtete Silo fasste bis 15 000 Tonnen Getreide und wurde im Dezember 1935 in Betrieb genommen. Vier Jahre später wurden die Erbauer des markanten Gebäudes, die Architekten Korsmo und Aasland, für ihren Entwurf mit dem Preis der Houen-Stiftung ausgezeichnet. Mit dem Getreidespeicher hatten die beiden – führende Vertreter der funktionalistischen Bewegung in Norwegen – ein Gebäude geschaffen, das über Jahrzehnte hinweg zur Ikone der Stadt wurde. 

In den folgenden Jahrzehnten wurde das Korn aus dem Silo in der nahegelegenen Mühle weiterverarbeitet, der Betrieb lief lange gut. Doch gesellschaftlicher Wandel und verändertes Konsumverhalten liessen die Nachfrage nach Mehl einbrechen, 2008 musste die grösste Mühle Kristiansands schliessen. Auch das Silo wurde nicht mehr benötigt und stand in der Folge leer. Neue Perspektiven ergaben sich, als der einheimische Kunstsammler Nicolai Tangen im Jahr 2015 dem Kunstmuseum Sørlandet seine private Sammlung mit nordischer Kunst schenkte. 

Nicolai Tangen polarisiert

Tangen ist in Norwegen keine unumstrittene Figur. Nach einem Studium der Finanzwissenschaften Anfang der 1990er-Jahre und dem Berufseinstieg in der Finanzbranche hängte er rund zehn Jahre später ein Studium in Kunstwissenschaften an, 2017 erhielt er ausserdem einen Masterabschluss in Sozialpsychologie. Heute leitet der Milliardär den norwegischen Erdölfonds, den weltgrössten Staatsfonds, über den auch zahlreiche Pensionskassengelder künftiger Generationen verwaltet werden. Bevor er diese Stelle antrat, geriet er wegen möglicher Interessenkonflikte unter Beschuss. Grund dafür war der Besitz von 78% an dem von ihm gegründeten Hedge-Fund AKO Capital. Als Reaktion darauf und um den Konflikt zu beenden, übertrug er seinen Anteil an die 2013 gegründete unabhängige Stiftung AKO Foundation, die sich in den Bereichen Kultur, Bildung und Klima engagiert. Der Krimi zog weite Kreise, beschäftigte Parlament, Wirtschaft und die Öffentlichkeit gleichermassen. Darin spielte gar das Kunstsilo eine kleine Nebenrolle, als die Norges Bank den E-Mail-Verkehr zwischen Tangen und dem Chef des Staatsfonds der drei vorangegangenen Jahre veröffentlichte – darin ging es unter anderem um die Schenkung seiner wertvollen Sammlung, und so erfuhr die Öffentlichkeit vom geplanten Museumsprojekt in Kristiansand.

Museum mit langer Geschichte

Im Zusammenhang mit der Schenkung schlug Tangen die Umnutzung des Getreidesilos zum neuen Kunstmuseum von Kristiansand vor – passend zur Entwicklung der Umgebung um den Kai, die sich in ein Wohngebiet und Kulturviertel wandelt: 2012 wurde nebenan das neue Kilden Performing Arts Centre eröffnet. Das neue Kunstmuseum mit dem passenden Namen Kunstsilo sollte nicht nur die Sammlung Tangen beherbergen, sondern auch diejenige Sammlung der Gemäldegalerie Christianssands und die Kunstsammlung Sørlandet. 

Die 1902 gegründete Gemäldegalerie Christianssand war die erste Kunstsammlung der Stadt. Das Schauspielerehepaar Sigvard und Laura Gundersen stiftete die ersten Werke für die Sammlung, die vom lokalen Kunstverein betreut wurde. Heute umfasst sie 883 Kunstwerke. Die Kunstsammlung Sørlandet, die seit dem Umzug ins Kunstsilo den Namen Sørland Collection trägt, vereint über tausend Werke mit den Schwerpunkten zeitgenössische Kunst, Kunsthandwerk und regionale Künstler:innen. Nicolai Tangens Schenkung schliesslich beinhaltet Gemälde, Grafiken, Skulpturen, Textilien, Keramiken, Kunsthandwerk, Fotografien und Konzeptkunst – eine riesige Vielfalt an Werken aus der Zeit von 1930 bis heute. 

Monumentales Bauwerk

Wo einst Weizen gelagert wurde, haben heute Tausende Kunstobjekte einen neuen Platz gefunden – unter den Dächern der knapp vierzig Meter hohen Zylinder des Silos. Die reduzierte Ästhetik des Baus mit seinen grossen Flächen und den klaren geometrischen Formen wirkt fast ein wenig sakral. Das Umbauprojekt von Mestres Wåge Arquitectes, BAX und Mendoza Partida setzte sich beim Architekturwettbewerb im Jahr 2017 gegen 100 weitere Beiträge aus siebzehn Ländern durch. Die Jury hob am auserkorenen Entwurf unter anderem das elegante Gleichgewicht hervor, das die Architekt:innen zwischen dem ursprünglichen Aussehen des Gebäudes und den ihm innewohnenden skulpturalen und räumlichen Möglichkeiten herstellten. Die Umbauarbeiten konnten 2019 beginnen.

Die Anpassungen in der Raumaufteilung und die Beleuchtung verleihen dem Bau einen einzigartigen Charakter. Damit wird in der bewegten Geschichte des Gebäudes und der Kunstsammlung nun ein neues Kapitel aufgeschlagen. Das Projekt hat national und international grosse Aufmerksamkeit erhalten. Reidar Fuglestad, Direktor des Museums, differenziert: «Es gibt zwei Hauptinteressen, die die Leute zum Kunstsilo führen: einerseits die Faszination spektakulärer Architektur im Kontext von Sanierungen alter Gebäude, andererseits das Interesse an der Kunst der nordischen Moderne im Allgemeinen und der Tangen-Sammlung im Besonderen.» Das Kunstsilo könnte künftig auch für die Ausstrahlung Kristiansands und den Tourismus eine wichtige Rolle spielen. «Dank guter Flug- und Fährverbindungen könnte die Stadt mit dem Museum neu das ganze Jahr über zu einem attraktiven Reiseziel werden», so Reidar Fuglestad. So trifft es sich gut, dass die Eröffnung in dieselbe Zeit fällt, in der das rund 1500 km weiter nördlich gelegene Bodø als Kulturhauptstadt Europas Kunstinteressierte aus aller Welt zum Besuch einlädt.

Autorin: Katharina Flieger 

Martin Schärer (1945–2023)

Die Nachricht von Martin Schärers Tod trifft mich tief. Ich denke an die vielen gemeinsamen Momente, die ich mit Martin geteilt habe:

Ich hatte früh von ihm gehört, da er mehrere Jahre als Kurator am Schweizerischen Landesmuseum tätig war, aber lange vor mir.

Ich lernte Martin Mitte der 1980er-Jahre in Winterthur kennen. Er war gerade zum Präsidenten des Verbands der Museen der Schweiz (VMS) gewählt worden, und ich trat dem Vorstand bei, ohne zu wissen, dass ich ihm viele Jahre später in dieser Funktion folgen würde. Wir arbeiteten sechs Jahre im Vorstand zusammen und erreichten, dass die Vorstandsmitglieder bis zu drei Amtszeiten ausüben konnten. Doch Martin wollte nicht, dass man sagen könnte, er habe diese Änderung herbeigeführt, um länger Präsident zu bleiben, und so trat er nach zwei Amtszeiten zurück. In dieser Zeit lud er den gesamten Vorstand zu einem Essen in Vevey ein, am Tag des heiligen Martin!

Martin holte mich später als Dozent für die Identifizierung von Alltagsgegenständen für die Museologieausbildung an die Universität Basel. Dank ihm durfte ich bis letztes Jahr bei verschiedenen Museolgiekursen mitwirken.

Einige Jahre zuvor hatte er das Alimentarium in Vevey gegründet und geleitet, ein Museum, in dem meine jüngere Schwester Isabelle Raboud-Schüle als Konservatorin tätig war – auch sie, ohne zu wissen, dass sie viele Jahre später ebenfalls seine bzw. unsere Nachfolge als Präsidentin des VMS antreten würde.

Ich schätzte Martins internationale Aktivitäten: Er war bemerkenswert mehrsprachig, was es ihm leicht machte, sich im ICOFOM-Komitee (Komitee für Museologie) zu engagieren, dessen Vorsitz er auch übernommen hatte. Bei den Generalversammlungen von ICOM fühlte sich Martin sehr wohl, und ich erinnere mich, wie sich in Melbourne – als seine Wahl zum ICOM-Vizepräsidenten bekannt gegeben wurde – die gesamte Schweizer Delegation im Saal erhob, alle im gleichen T-Shirt mit dem ICOM-Emblem.

Martin bleibt für mich ein äusserst sympathischer Kollege, der die Museologie als angewandte Wissenschaft betrachtete, ein Bereich, in dem er mehrfach publiziert hat.

Es regnet ... Das Wasser spült die gemeinsamen Erinnerungen weg ... Adieu, Martin!

Bernard A. Schüle, April 2024